Der Mann mit dem Buch
Ich laufe zur Bushaltestelle – wie fast jeden Tag. Mein täglicher Weg führt an einem kleinen türkischen Laden vorbei – die Verkäuferin lächelt mich immer herzlich an und vor dem Laden riecht es nach frischen Blumen, die dort unter anderem verkauft werden. Außerdem ist hier jede mögliche Obst- und Gemüsesorte zu finden. Knallrote Äpfel, dunkelgrüne Zucchinis.
Eigentlich muss ich meinen Bus bekommen, aber ich betrete den Laden. Es riecht nach Gewürzen – Curry, Kurkuma, Chilli. Und nach frisch gebackenem Fladenbrot. Ein kleines Paradies. Es ist ruhig. Beruhigend. Die Atmosphäre lädt zum Stöbern ein.
Ich sehe eine offene Tür und ein Hinterzimmer. Dort sitzt ein Mann und liest ein Buch. Irgendein türkisches Buch. An den Farben des Buchumschlages erkenne ich, dass es sich um ein anderes Buch als beim letzten Mal handelt. Letztes Mal war es grün. Heute braun.
Und ich frage mich ob dieser Mann den ganzen Tag auf seinem Stuhl sitzt und liest. Wie viele Bücher er dann wohl schon gelesen hat? Und ob er nicht langsam genug hat von der Geruchsmischung aus Gewürzen und Fladenbrot und Blumen. Aber – ich glaube nicht. Er sieht nämlich ziemlich zufrieden und in sich ruhend aus. Immer, wenn ich hier bin. Und ich denke: manchmal muss man gar nichts besonderes tun, um glücklich zu sein. Manchmal muss man nur, umgeben von Gewürzen und Fladenbrot, auf einem Stuhl sitzen und lesen.
Ich verlasse den Laden und fühle mich, als würde ich eine andere Welt betreten. Eine Welt mit lauten Autos, die die Luft verschmutzen und gestressten Menschen, die durch ihren Alltag hetzen. Aber dieses Mal ist irgendetwas anders. Ich nehme den Stress um mich herum anders wahr, lasse mich davon nicht anstecken. Ich denke an den Mann mit dem Buch und freue mich schon, gleich eine Gemüsepfanne zu kochen, die neuen Gewürze auszuprobieren und zu lesen. Den Bus hab ich eh längst verpasst.
Unerwarteter Besuch
Der zweite Advent. Die Kekse sind im Ofen – heute werden es Zimtsterne, meine Lieblingskekse in der Weihnachtszeit. Mit einer Tasse Tee in der Hand verlasse ich die Küche, um es mir auf dem Sofa gemütlich machen zu können, während die Sterne im Ofen vor sich hin backen. Ich streife mir meine Hausschuhe von den Füßen, zünde zwei Kerzen von meinem selbst gebastelten Adventskranz an und mache es mir mit Tee und Buch auf dem Sofa gemütlich. Wirklich schön, diese Adventssonntage, an denen die
Wohnung nach frisch gebackenen Keksen, Duftkerzen und Lebkuchen riecht. Heute muss ich die Wohnung nicht mehr verlassen. Stattdessen kann ich ganz in Ruhe von meinem Sofa aus das Schneetreiben vor meinem Fenster beobachten und auf meine Freunde warten, die später mit Wein und Pizza zum Tatort gucken vorbeikommen. In der Weihnachtszeit geht es für mich gar nicht um Geschenke. Viel schöner und wichtiger sind solche Tage wie heute. An denen ich Zeit für mich finde, zur Ruhe komme und einen
schönen Abend mit meinen Liebsten verbringe. Es geht um Besinnlichkeit und Dankbarkeit.
Plötzlich klingelt es an der Tür – es ist gerade erst nachmittags. Meine Freunde werden es nicht sein, wir sind schließlich erst in vier Stunden verabredet. Kurz überlege ich, das Klingeln einfach zu ignorieren. Aber beim Anblick des Schnees und Sturms vor dem Fenster verwerfe ich meinen Gedanken schnell wieder. Was, wenn die Person, die gerade geklingelt hat, Hilfe benötigt? Also ziehe ich meine Hausschuhe an und gehe zur Haustür.
Die Hausschuhe sind eigentlich echt nicht für den Winter geeignet. Mir ist grundsätzlich kalt und eigentlich sind es eher Latschen, die vorne auch noch offen sind. Aber sie waren ein Geschenk meiner Oma und sind echt bequem.
An der Tür angekommen drücke ich auf den Summer, höre, wie sich die Tür unten öffnet und eine Person die Treppe hochkommt. Noch ist meine Wohnungstür geschlossen. Ich möchte lieber erst einmal durch den Spion gucken.
Ich sehe, wie eine Frau vor meiner Tür auftaucht. Sie ist relativ klein, hat dunkle, lange Haare, braune Augen und sieht ziemlich durchgefroren aus.
Ich öffne die Tür. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Es tut mir wirklich leid, Sie an einem Sonntagnachmittag stören zu müssen. Sie sind die einzige Person, die mir die Tür geöffnet hat. Ich komme nicht von hier und mein Handyakku ist alle. Ich muss unbedingt einen Freund erreichen, den ich heute Abend treffen wollte, und natürlich steht unser Treffpunkt in meinem Handy. Ich habe tatsächlich weit und breit kein Café gefunden, in dem ich mein Handy aufladen konnte, und danach googlen war ja auch nicht möglich … heutzutage sind wir echt aufgeschmissen ohne diese Dinger!“
Ganz kurz denke ich, dass das vielleicht alles nur ein Vorwand ist, um mich auszurauben oder sowas. Aber dann schäme ich mich für den Gedanken. Wir sind alle viel zu misstrauisch geworden, denke ich, und bitte die Frau, hereinzukommen.
Als sie ihr Handy anschließt, stellt sie sich vor. „Ich bin übrigens Maria und wohne in Frankfurt. Ein Freund von mir wohnt hier in Hannover und eigentlich war ausgemacht, dass ich heute Abend direkt vom Bahnhof aus zu unserem Treffpunkt fahre. Irgendwie bekam ich dann aber heute Morgen die Benachrichtigung, dass mein Zug ausfällt und ich die Möglichkeit habe, einen früheren zu nehmen. Ich musste mich ziemlich beeilen und dachte, dass ich im Zug mein Handy aufladen und meinem Freund Bescheid sagen
könnte. Bei meinem Glück gingen die Steckdosen dann aber nicht, also saß ich ohne Handyakku im Zug und kam vor zwei Stunden in Hannover an, ohne zu wissen wo ich hin soll. Ich bin dann erst mal losgelaufen. Später fiel mir dann ein, dass ich im Bahnhof bestimmt irgendwo mein Handy hätte aufladen können, aber da war ich schon hier in Ihrer Straße. Ich bin wirklich froh, dass Sie aufgemacht haben! Länger hätte ich es in dieser eisigen Kälte echt nicht ausgehalten… — ah, mein Handy ist an. Ich telefoniere schnell und dann sind Sie mich auch wieder los.“
Während Maria telefoniert, fallen mir die Kekse im Ofen ein. Ich dachte der komische Geruch kommt von draußen, aber nein … ich laufe in die Küche und natürlich sind die Kekse verbrannt. Ich hab sie total vergessen.
„Oh nein, ich habe Sie total abgelenkt!“, sagt Maria, als sie in die Küche kommt und mich vor den schwarzen Keksen sieht. „Das tut mir so leid. Ich werd Sie jetzt wieder in Ruhe lassen und draußen an der Bushaltestelle gegenüber warten. Mein Freund wird mich dort später abholen, gerade kann er leider noch nicht. Aber das ist nicht schlimm. Danke, dass Sie mich überhaupt reingelassen haben.“
Ich zögere nicht lange und frage Maria, ob sie nicht einfach hier warten möchte. Ich habe mich zwar auf den Nachmittag allein gefreut, aber Gesellschaft ist schließlich auch schön und außerdem scheint sie echt nett zu sein. Und ich bringe es echt nicht übers Herz, sie wieder in die Kälte zu schicken.
Sie freut sich über mein Angebot und wir machen es uns mit Tee auf dem Sofa gemütlich.
Eineinhalb Stunden und gute Gespräche später steht ihr Freund unten vor der Tür. Wirklich schade, Maria und ich sind absolut auf einer Wellenlänge. Wir haben unsere Nummern ausgetauscht, und sie verspricht mir, nicht nur ihren Freund bei ihrem nächsten Hannoveraufenthalt zu besuchen, sondern auch mich.
Als sie nach unten geht und ich die Tür hinter mir schließe, denke ich, wie froh ich bin, mein Misstrauen vorhin beiseitegeschoben und an das Gute geglaubt zu haben. Vielleicht macht genau so etwas die Weihnachtszeit aus.