Gianna Lange: ›Elise‹
Sie waren sich alle so sicher. Selbst Elise. Sprach und hustete Blut. Und dann riefen sie an und sagten, dass sie gelogen hatten. Dass sie gestorben war. Letzte Nacht, völlig unerwartet, denn an Tuberkulose stirbt heute niemand mehr. Und es stimmte auch nicht, dass ein totes Gesicht aussieht wie ein schlafendes. In einem schlafenden Gesicht ist das wache noch sichtbar. Es legt sich unter die oberste Hautschicht und wartet und schimmert durch den Schlaf. Und mit ihm sein Lachen, sein Weinen, seine Wut, die Falten, die dazu gehörten. Die Anstrengungen, die ein jeder Tag brachte, die die Knochen kleiner drückten und die Falten falteten. All das war jetzt weg. Es war aus diesem Gesicht gewichen und hatte etwas Farbe mitgenommen. Hier lag ein Gesicht, das keine Spuren mehr hatte. Durch die Haut, dabei war sie jetzt so hell, schimmerte nichts mehr hindurch. Ursprünglich sah es aus. Wie ein Gesicht, das kein Leid kannte, Ungerechtigkeiten und Trauer noch nicht kennengelernt hatte. Die Lachfalten um die Augen hatten ihre Arbeit verloren und lagen hilflos und untätig um die Augen meiner Mutter, die oft gelacht hatte. Mit dem Mund und den Falten und den Grübchen, aber nicht immer mit den Augen. So als müsste es reichen, der Welt zu zeigen: ‘Sieh, ich lache noch. Aber sieh nicht so genau hin. Sieh nur auf den Mund und die Falten und die Grübchen. Siehst du? Ich lache noch. Siehst du, Sohn? Ich lache noch. Also sorge dich nicht.’ Das hab ich nie, warum sollte ich jetzt damit anfangen? Sag mir, Elise, warum soll ich?
Als mein Unterbewusstsein feststellte, dass Emma meiner Mutter ähnelte, begann es umgehend, mir Sigmund Freuds Weisheiten an den Kopf zu werfen. ‘Was soll denn das werden, Ödipus?’ Und ich sah Emma an und sie lächelte mit den Augen. Anders als Elise, deren Augen schon lange nicht mehr gewusst hatten, wie das ging. Und wenn ich sie ansah, hielt alles in mir endlich die Schnauze.
Gianna Lange, geboren 1988 in Bremen, studierte zunächst Journalistik an der Hochschule Bremen. Nach einem Auslandssemester in London änderte sie ihren Kurs und befindet sich jetzt im Masterstudium der Transnationalen Literaturwissenschaft an der Uni Bremen. Sie war Autorin für das Onlinemagazin BOM13, veröffentlicht kurze Texte auf ihrem Blog und ist Gründungsmitglied des lyrischen Kollektivs ›gabrieleschreibtgedichte‹.
Begründung der Jury
„Jede Prise Rührei gab es hier mit einer Prise Teflon“ - so erlebt es Oskar bei seinem ersten Besuch in der ungemütlichen Gemeinschaftsküche der studentischen WG. Er trauert um den Tod seiner Mutter und erinnert sich zurück an seine Kindheit und die Trennungsgeschichte seiner Eltern. Mit feiner Ironie, guten Detail-Beobachtungen und dem Gespür für den bitteren Beigeschmack und die melancholischen Untertöne in menschlichen Beziehungen gelingt es hier Gianna Lange den Leser zu berühren und Spannung auf das Romanprojekt ›Elise‹ zu erzeugen.
Zur Jury 2015 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Gudrun Liebe-Ewald (Stadtbibliothek Bremen) und Jens-Ulrich Davids (Vorstand Bremer Literaturkontor / Autor).