Porträts von sechs Autor*innen, die am Coronablog-Projekt teilnahmen

Corona-Blog: Frühjahr 2020

Porträt von Corinna Gerhards
© Laura Bostelmann

Corinna Gerhards vom 20. bis 24. April 2020

Corinna Gerhards (*1977): Gelernte Tischlerin, später Studium der Germanistik und Kulturwissenschaften. Heute arbeitet die alleinerziehende Mutter als freie Schriftstellerin, ausgebildete Drehbuchautorin, Jugendbuch-Gutachterin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben.

www.corinnagerhards.de

Tag 1, Montag, 20. April 2020
Eigentlich geht es mir gut 

Ich bin ein grundsätzlich optimistischer Mensch. Zumindest so lange mir andere dabei zugucken. Ich habe ein Dach, das mir auf den Kopf fallen kann. Ich kann mich darüber beschweren, dass ich immer dicker werde, so ohne richtige Bewegung und Fitnessstudio, weil ich einen vollen Kühlschrank habe. (Das mit dem Fitnessstudio steht an dieser Stelle symbolisch, natürlich gehe ich da sonst auch nicht hin, es geht ums Prinzip). Ich habe keine Eltern oder älteren Verwandten mehr, um die ich mich sorgen müsste, und keine kleinen Kinder, denen ich zum 27. Mal „Das Kleine Ich bin Ich“ vorlese, während ich auf allen Vieren als Wauwau durch die Wohnung robbe und sie das Sofa mit Fingerfarben verzieren.

Eigentlich geht es mir gut.

Ich suche nach den positiven Nachrichten, schaue mir immer wieder Fische in den Kanälen Venedigs an, die sinkenden CO2-Zahlen und Videos von Zusammenhalt und singenden Menschen auf Balkonen. Aber dann drücke ich einmal nicht schnell genug den Stopp-Knopf und statt glücklichen Delphinen sehe ich weinende Krankenschwestern. Und dann denke ich an den alten Mann, der im Kino immer in der Reihe vor mir sitzt. Und an meine Lieblings-Kioskverkäuferin, die das Rentenalter längst überschritten hat. Ich frage mich, ob sie noch da sind. Ich denke daran, wann ich das letzte Mal jemand umarmt habe, wann ich meine Freunde das letzte Mal gesehen habe und wann ich das letzte Mal im Kino, auf einer Lesung, einem Konzert oder einfach in einem Straßencafé gewesen bin und dabei noch nicht einmal wusste, dass es ein letztes Mal war. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass ich keine Ahnung habe, wo meine nächsten Aufträge herkommen sollen, ohne die üblichen Netzwerk-Veranstaltungen. Ohne Filmproduktionen. Ohne Lehre. Ohne Menschen! Und es funktioniert nicht ganz mit dem Nicht-daran-Denken.

Dann bricht alles zusammen.

Für einen Augenblick, vielleicht auch für mehrere, vielleicht für Stunden, legt sich die Angst schwer auf meine Brust – ob es jemals wieder so wird, wie es war, und wie lange dauert es noch? Und dann schäme ich mich, so zu fühlen, weil es anderen so viel schlechter geht.

Ich setze meine selbstgemachte Schutzmaske auf und gehe unter Einhaltung aller Sicherheitsregeln eine Runde in der Sonne spazieren und für einen Moment fühlt es sich wieder fast normal an.

Fast.

Eigentlich geht es mir gut.

Tag 2, Dienstag, 21. April 2020
Die Sache mit der Schlafanzughose

Wir sind aufgeflogen.

Normalerweise geschah das, was wir Autoren den ganzen Tag machen, hinter verschlossenen Türen. Es hatte etwas Magisches, Geheimnisvolles, wenn der Schreiberling sich in sein Sanktum zurückzog und mit einem fertigen Manuskript wieder hinauskam.

Jetzt fühle ich mich durchschaut.

Selbst in meiner eigenen Vorstellung sitzt der Autor hübsch gestriegelt wahlweise in Tweetanzug oder im fließenden Gewand an einem Jugendstil-Schreibtisch, krault gelegentlich die Katze auf dem Schoß und nippt an einem Rotwein oder einer Teetasse, während er unermüdlich entweder sehr intelligent vor sich hin sinniert oder mit fliegenden Fingern die Tasten bearbeitet.

Da die meisten Autoren das immer schon in ihren eigenen vier Wänden machen, handelt es sich sozusagen um den Prototyp des Homeoffice.

Was für viele bisher ein mystisches Wort, vielleicht im besten Fall eine Traumvorstellung war, ist von heute auf morgen Alltagsrealität geworden.

Die meisten Ratschläge für die Arbeit im Homeoffice, beginnen mit den gleichen zwei Punkten:

Stehen Sie auf!
Ziehen Sie sich eine Hose an!
Da man das „normal“ arbeitenden Menschen ja auch nicht extra auflistet, wird somit automatisch unterstellt, dass Menschen im Homeoffice das nicht zwangsläufig tun.

Ich möchte mich dazu an dieser Stelle nicht weiter äußern …

Dennoch bin ich mir bewusst, dass, wenn ich jetzt sage, ich arbeite von zu Hause, mir ein wissendes, leicht spöttisches Nicken entgegengebracht wird, vielleicht sogar gemischt mit ein wenig Mitleid. Denn jeder weiß jetzt, dass das heißt:

Stundenlange „Recherche“ (Nur noch ein Artikel, dann lege ich wirklich los!), zahlreiche, über den Tag verteilte Ausflüge zum Kühlschrank (nur noch ne Kleinigkeit Essen, dann lege ich wirklich los!!). Schnell noch einmal checken, ob auf Social Media nicht was ungemein Wichtiges passiert ist (nur noch…) und der plötzliche unerklärliche Drang, die Badezimmer-Armaturen mal wieder richtig gründlich zu polieren … Bis es schon fast Abend ist und man verzweifelt versucht, das Tagespensum noch zu schaffen.

Immerhin – während ich mir sehr intensiv vornehme, gleich richtig los zu arbeiten, liegt tatsächlich ein Kater auf meinem Schoß und sabbert ein bisschen im Schlaf. Wenn er wieder aufsteht, hinterlässt er eine Wolke seines Winterfells auf meiner Schlafanzughose.

Es wird Frühling. Auch im Homeoffice.

Tag 3, Mittwoch, 22. April 2020
Die Sache mit David Lynch

David Lynch sagte kürzlich in einem Interview, er glaube daran, dass die Welt nach Corona „more spiritual and much kinder“ wird. Mal ganz abgesehen von seiner sehr privilegierten Sicht der Dinge, mit Haus und Geld und Sicherheiten, weiß ich nicht ganz, was ich davon halten soll. Obwohl das ganze Szenario gerade durchaus an einen Lynch-Film erinnert, ist er ja nun nicht gerade für seine strahlenden Happy Ends bekannt.

Als albtraumhaft und surrealistisch beschreibt Wikipedia Lynchs Filme. Und irgendwie trifft es die Zeit gerade ganz gut. Aber so geheimnisvoll und gegen unsere Sehgewohnheiten diese oft sind, verfolgen sie doch immer einen dramaturgischen Bogen, angeführt durch eine innere Getriebenheit.

Zurzeit fühlt es sich dagegen eher an wie „zwischen den Jahren“, jene dumpfen Tage einer eingefrorenen Nicht-Zeit, nur mit mehr Warm. Und dass wir nicht wissen, wann Silvester ist.

Dabei wäre es so schön, dieses eine Datum zu haben, an dem mit einem Knall auf der ganzen Erde die Türen wieder auffliegen, die Menschen sich auf der Straße in den Armen liegen, Samba-Bands durch die Straßen ziehen und alle wild tanzend den Neubeginn begrüßen.

Stattdessen mutet es eher an wie eine mittelmäßige Serie, “Lost” vielleicht, die recht spannend anfängt, dann aber immer mehr nachlässt, viel zu oft verlängert wird und am Ende in Banalitäten versiegt, weil sich herausstellt, dass selbst die Macher lange nicht wussten, wie sie eigentlich enden sollte.

Was wird dann aus all den Rufen nach einer neuen Welt? Nach mehr Solidarität und den ganzen Dingen, von denen wir jetzt entweder merken, dass wir sie gar nicht brauchen oder dass wir sie ganz dringend brauchen und viel zu lange für selbstverständlich genommen haben? Schütteln wir uns in einigen Wochen oder einigen Monaten oder einigen Jahren wie ein nasser Hund und machen einfach so weiter wie zuvor?

Irgendwann fragen unsere Enkel uns dann vielleicht nach “damals, als die Welt still stand”, und alles, an das wir uns erinnern, ist irgendetwas Diffuses mit Toilettenpapier …

Tag 4, Donnerstag, 23. April 2020
Die Sache mit den Gummibären

Immer wenn ich zurzeit mit anderen Filmemachern spreche, kommt irgendwann das Thema auf, ob wir (logistisch und finanziell beiseite gelassen) überhaupt noch „ganz normale“ Filme machen können, wenn das alles ansatzweise vorbei ist. Wenn ich jetzt an einem Drehbuch arbeite, dürfen sich die Leute darin umarmen? Dürfen sie dichtgedrängt in Clubs rumhängen und ohne Gesichtsmaske einkaufen gehen? Oder heißt es dann gleich: „Ach! Du drehst historisch!“

Sprich: Werden wir in Zukunft Filme und Bücher in „Before Corona“ (BC) und „After Corona“ (AC) einteilen müssen? Zucken wir nicht jetzt schon leicht zusammen beim Fernsehen und möchten den Schauspielern zurufen: Wo ist denn hier der Mindestabstand??

Seit Stunden scrolle ich hin und her, wechsle zwischen Netflix und Prime, schaue die ersten Minuten einer neuen Serie, über die ich schon ganz viel gehört habe, und gehe wieder raus.

Seit wann sind eigentlich alle Serien so düster? Selbst solche, die noch nett angefangen haben, werden ab der dritten Staffel spätestens deprimierend und dunkel. Als ob eine gute Charakterentwicklung nur stattfinden kann, wenn wir uns nach anfänglichem In-Sicherheit-Wiegen, erst langsam und dann immer rasanter ihren Abgründen nähern.

Wenn ich gerade Abgründe sehen möchte, schalte ich die Nachrichten ein.

Als der Streamingdienst Disney+ im März in Deutschland an den Start gegangen ist, haben alle damit gerechnet, dass „The Mandalorian“ sprunghaft an die Spitze der meist geschauten Serien schnellt. Stattdessen fand sich auf Platz Eins etwas gänzlich anderes wieder:

Die Gummibärenbande.

Und ich traue mich mal zu behaupten, dass das nicht nur an den ganzen gelangweilten Kindern lag …

Um ehrlich zu sein, hat mich diese Plattform bisher null interessiert. Aber auch mein erster Gedanke war: Es gibt die Gummibärenbande?? Wie sieht das noch mal mit dem Probemonat aus?

Ich glaube tatsächlich, dass sich etwas in der Filmwelt ändern wird.

Ich glaube, die Zeit des „dunkler, schwerer, grausiger, depressiver“ ist vorbei.

Es ist als ob wir all diese dystopischen Serien, Filme und Bücher brauchten, weil wir tief in uns wussten, dass wir uns darauf vorbereiten mussten, dass es bald sehr viel härter wird, dass die Freiheit und die Sicherheit, in der wir uns so selbstverständlich wiegten, auf sehr dünnem Eis steht.

Aber jetzt, wo wir es erleben, wird es wieder Zeit uns zu erinnern, was wir eigentlich wollen, statt uns damit zu beschäftigen, wo wir hinkommen könnten, wenn alles den Bach runtergeht. Ziemlich viel ist in einem wahren Wasserfall, viel schneller und unerwarteter flussabwärts gegangen, als wir je gedacht hätten. Nun brauchen wir wieder Medien, die uns zeigen, wo wir hinkommen könnten, wenn alles ein bisschen besser wird, mit Hoffnung und Utopien, vielleicht genauso überzeichnet wie vorher die Dystopien.

Es lebe die Gummibärenbande und das kleine Stückchen heile Welt!

Tag 5, Freitag, 24. April 2020
Ruhe

Ich weiß noch, dass es mich immer ein wenig gewundert hat, in Filmen oder Literatur über Krieg zu beobachten, dass trotz aller schrecklichen Dinge, die passierten, der Alltag irgendwie weiterging. Kinder wurden geboren, Menschen verliebten sich, Kuchen wurden gebacken.

In jenen ersten verwirrenden, überwältigenden Tagen des Lockdowns, die so gar nichts mit Alltag zu tun hatten, fast undenkbar. Da fiel in einem amerikanischen Magazin ein Satz, der mir seitdem immer wieder durch den Kopf geht:

„The feeling you are feeling now is grief.“

Wir hatten nicht nur unsere momentane Freiheit, Treffen mit Freunden und Familie und eventuell unseren Job verloren, sondern vor allem ein Sicherheitsgefühl, mit dem die meisten von uns aufgewachsen sind. Wir mussten plötzlich erfahren, dass die Welt, wie wir sie kannten, von jetzt auf gleich eine ganz andere werden konnte, oder noch schlimmer – eine Welt, von der wir noch immer nicht wissen, wie sie in einem Monat oder einem Jahr aussehen wird. Da war Trauer doch ein sehr angebrachtes Gefühl.

Durch unsere globalisierte Vernetztheit konnten wir also plötzlich beobachten, wie Milliarden von Menschen auf der ganzen Erde geschlossen wie nie die berühmten 5 Phasen durchliefen:

Angefangen beim Leugnen – „Alles nicht so schlimm“, „Nur ´ne Grippe“, „Kann uns nicht gefährlich werden“ – ging es nach den ersten Einschränkungen und der Erkenntnis, dass uns das sehr wohl doch passieren kann, schnell in Zorn über. Von „Wie kann man uns nur so maßregeln!“ bis hin zu einem exemplarischen Dieter Nuhr, der wettert, dass er gefälligst auftreten will.

Dann folgte das Verhandeln, zu dem durchaus auch Verschwörungstheorien gehören, die im Grunde nur ein verzweifelter Versuch sind, dem Ganzen einen Sinn zu geben. Aber auch das konstante Aufzählen der vielen guten Seiten, die Bilder von einer sich erholenden Natur und dem Zusammenhalt der Menschen verfolgen eigentlich das gleiche Ziel.

Die vorletzte Stufe ist die Trauer selber, bis hin zur Depression, das langsame Abschiednehmen von der Welt, die wir kannten.

Wir haben viele Dinge, die wir liebgewonnen haben, zumindest vorübergehend verloren. Eine melancholische Schwere drückt mittlerweile auf die panische Aufregung der ersten Wochen, und zu wissen, dass sie da auch noch eine Weile liegen bleiben wird, drückt auf unsere Schultern.

Aber wenn die erste Schockstarre vorbei ist, wenn die Phasen der Trauer durchlaufen sind, egal ob es sich um einen Krieg, eine Trennung, den Verlust eines geliebten Menschen oder eine weltweite Pandemie handelt, wenn Leugnen, Zorn, Verhandeln und Depression überwunden sind, dann tritt die Akzeptanz ein, die uns letztendlich wieder handlungsfähig macht.

Es hat nur wenige Wochen gedauert und wir wechseln automatisch die Straßenseite, können uns eine Welt ohne Zoom kaum noch vorstellen, wundern uns, wenn wir einen Laden direkt betreten können, ohne vorher in zwei Meter Abständen davor auf Einlass gewartet zu haben.

Kinder werden geboren, Menschen verlieben sich, Kuchen werden gebacken (oder in unserem Fall eher Unmengen an Brot). Die Welt dreht sich weiter. Und zusammen mit der Akzeptanz kommt nach all den Wochen des emotionalen Chaos’ endlich wieder Schritt für Schritt ein bisschen von der inneren Ruhe zurück, die wir so vermisst haben.

Auch wenn selbst diese Ruhe jetzt eine andere ist.


Weitere Beiträge zum Corona-Blog (Frühjahr 2020)

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In der ersten Woche des Corona-Blogs, den das Literaturkontor im Frühjahr 2020 veröffentlichte, berichtete Anna Lott über das Schreiben in Zeiten von Corona.

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In der dritten Woche des Corona-Blogs, den das Literaturkontor im Frühjahr 2020 veröffentlichte, berichtete Meike Dannenberg über das Schreiben in Zeiten von Corona.

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In der vierten Woche des Corona-Blogs, den das Literaturkontor im Frühjahr 2020 veröffentlichte, berichtete Jörg Isermeyer über das Schreiben in Zeiten von Corona.

Corona-Blog 1: Colin Böttger

In der fünften Woche des Corona-Blogs, den das Literaturkontor im Frühjahr 2020 veröffentlichte, berichtete Colin Böttger über das Schreiben in Zeiten von Corona.

Corona-Blog 1: Anke Bär

In der sechsten Woche des Corona-Blogs, den das Literaturkontor im Frühjahr 2020 veröffentlichte, berichtete Anke Bär über das Schreiben in Zeiten von Corona.