Ausschnitt von einem Arbeitstisch aus einer Schreibwerkstatt

Werkstatt-Texte

›Literarischer Kulturaustausch‹ 2020 - mit Angelika Sinn

Die folgenden Texte sind im Rahmen unserer Schreibwerkstatt ›Literarischer Kulturaustausch‹ unter der Anleitung von Angelika Sinn entstanden. Des Seminar fand an drei Samstagen im Februar, April und September 2020 statt, wobei der zweite Termin aufgrund der Corona-Pandemie online durchgeführt wurde.

…, wenn das Telefon klingelt 

Mit dem Porträt in der Hand

Ich weiß nur, dass du da warst. Dein Porträt ist jetzt in meinen Händen und… und… Erinnerung.

Die Plaça de Catalunya voller Lärm und überall die unbekannten Gesichter, die lachten, die neugierig auf La Sagrada Familia de Gaudi waren und die keine Ahnung hatten, wie groß unsere Freude war. Ich traf dich, ich hörte dir zu. Nur ein Tisch, zwei Tassen Kaffee.

Deine gute Laune, deine Geschichten und Anekdoten, der Anruf deiner Mutter, deine Sorge wegen der Hitze, dein Mangel an Schminke, deine brasilianischen großen Fan-Ohrringe, deine Worte der Euphorie in jedem vierten Satz, deine Haare zu einem Knoten zusammengebunden, die Sonnencreme auf dem Tisch neben deinem Flamenco-Fächer ohne Spitzen und dieses Wiedersehen nach 8 Jahren. Seitdem saßen wir nicht mehr am gleichen Tisch und ich habe nie wieder Creme Brûlée probiert.

Heute fehlen mir eine tröstliche Umarmung, die Spaziergänge zu zweit, der lachende Komplizenblick und der Strand. Ich habe nur dein Porträt in der Hand, deine Stimme am Telefon und viele Jahre der Sehnsucht.

Was ich an dir schätze, Carolina

Jeder sagt “durch dick und dünn”. Da sind wir in der weltweiten Krise, wir lachen über absurde Witze und kindliches Benehmen. Deine Hand ist immer voller Hoffnung und Vertrauen für mich. Deine Geschichten, die von Heilung handeln. Ich fühle deine Gesellschaft in der Ferne. Die schlechten Nachrichten scheinen immer gar nicht so schlecht zu sein, weil sie die beste Ausrede sind, mit dir zu sprechen. Die Welt steht Kopf, es gibt Kalamitäten, ich höre keinen Reggaeton, ich lese die amerikanischen Zeitungen, ich schreie in der Stille unter dem Kissen, ich sehe die alten Filme bis zum Ende der Dunkelheit, und ich teile den Geschmack für venezolanische Schokolade mit dir. Dein Wort ist notwendig, wenn keiner mit mir spricht. Ich ernähre mich von deinem positiven Verstand.

In der Sekunde einer Pandemie

In der Sekunde, als alles begann. Weltweite Einsamkeit erobert die Straßen und wirft unseren Kalender ins Leere. Niemand hat einen Zeitplan oder einen festen Termin.

Von diesem Moment an wird die Beschränkung zu etwas Alltäglichem, und unsere Seelen müssen auf sich selbst aufpassen. Ein Aufruf, uns von unseren Mitmenschen zu distanzieren, bringt Kälte wie Schnee auf die Schultern und lässt sie langsam erfrieren. Vergiss die Umarmungen, den Tango, den Bolero, den Quinceañeras-Walzer, zwei spanische Begrüßungsküsse.

Transparentes antibakterielles Handgel-Antiseptikum in jeder Tasche, Toilettenpapier ist nirgends zu finden, Menschen schauen misstrauisch, Menschen entfernen sich voneinander, Husten ist nicht erlaubt.

Und was mache ich? Ich bleibe unter der Decke versteckt. 8 Tage, 2 Wochen, 56 Tage, 3 Monate, unbestimmte Zeit.

Und was machst du? Du rufst mich an. Einmal in der Woche, donnerstags und an den Sonntagen, alle zwei Tage, jeden Tag, mittags.

Deine hoffnungsvolle Art, mich davon zu überzeugen, dass die Zukunft besser sein wird als diese Gegenwart, ist das einzige, was mich begleitet. Deine Stimme voller weiser Ratschläge nimmt mich bei der Hand in der Verzweiflung und der Unsicherheit.

Und jetzt fühle ich mich mehr denn je deinem violetten Licht näher, wenn die Welt dazu gezwungen ist, sich nicht die Hand zu geben.

Humor, stundenlange Gespräche, mein Erdungsdraht.

In dieser Sekunde, wenn wir alle in unseren Häusern eingesperrt sind, in der sich alle Freunde in größter Entfernung fühlen, in der sich Familien getrennt vorkommen, in der viele Menschen nur ihren Hund Conan, Bruno oder Luna als Mitbewohner haben, wenn es keine Mandarinen auf den Tischen und keine Geburtstagsblumen gibt, wenn viele ihre Geschenke per Post erhalten und ich nicht mal das. Alle Gedanken drehen sich in einem endlosen Kreis. Die Worte wiederholen sich wie die Tage. Ich fühle mich wie ein verlassenes Kind, dessen einziges Spielzeug ein Telefon ist. Durch das Telefon habe ich die gleiche Distanz zu jedem, der anruft, egal wo auf der Welt er ist. Ja, deine Stimme in der Hand: Dein makelloser Geist erfüllt mein Zimmer mit Optimismus. Alles hat Licht.

Meine freiwillige Einsamkeit malt meine Kalender weiß. Aber die Zeit gewinnt jedes Mal ihren Wert zurück, wenn das Telefon klingelt.

Ohne Titel

wenn der Raum begrenzt wird
gibt es nicht mehr so viel zu durchschreiten
wie früher
kann man sich Zeit lassen
um von A nach B zu kommen
wir schlendern
und entdecken links und rechts
unerwartete Dinge
von denen wir nicht wussten, dass es sie überhaupt gibt
aus der Perspektive der Schildkröte
aus der Perspektive der Weinbergschnecke
in meiner Größe
in meinem Tempo
finde ich Schätze
in allen Buchstaben des Alphabets

Musik

Der Mensch ist das Produkt seiner Umwelt, so lautet ein Sprichwort.

Von Weitem höre ich klassische Musik durch das Rauschen des Windes hindurch. Aber an diese Art von Musik bin ich nicht gewöhnt und so wandern meine Gedanken und Phantasien noch einmal zurück in mein Heimatland.

In diesem Moment weiß ich schon, wo ich ihn finde, unseren Hirten, mit seinem Esel, seinem Hund und den Schafen. Er erzeugt eine besondere Musik, indem er an den Hals des Widders eine Glocke hängt und dadurch immer weiß, wo seine Schafe sind.

Als er mich sah, nahm er seine ewige Freundin, die Flöte, und begann eine Willkommensmelodie zu spielen, die ich liebe. Meine Füße und Hände begannen von ganz alleine zu tanzen – so schwamm ich mit den Wellen der Flöte hin und her, ganz nackt, ohne mich zu schämen.

Als ich aufwache, finde ich mich in einem Raum wieder, dessen Decke schön verziert ist. Darin stehen Stühle, weit auseinander, und darauf sitzen Menschen – miteinander, nebeneinander und auseinander. Fahnen der Angst flattern zwischen ihnen.

Verklungene Musik

Die Musik endet, der Wind und das Rauschen der Bäumen sind jetzt zu hören, vom Fenster aus kann ich die Wolken auf ihrem Weg sehen. Wir befinden uns in einem Raum mit Arkadenfenstern und barockem Stuckhimmel, in den Kristalltränen des Leuchters bricht sich das Licht.

Die Schatten der Bäume spiegeln sich mit ihren tanzenden Blättern im Raum, die Musik ist verklungen, wir sitzen am Rande des Zimmers.

Wir sind da, in Spätsommerstimmung, bei fröhlicher Musik. Die langen Tage im Frühling, an denen ich allein war, kommen mir ins Gedächtnis: Ich habe den Frühling gerochen, die Blumen wachsen gesehen, dem Gesang der Vögel gelauscht und mir selber zugehört, habe meine Schritte durch die Wohnung gehört, das Öffnen der Kühlschranktür, das Brodeln der Kaffeemaschine und das Rascheln der Buchseiten beim Umblättern.

Ich habe meine Schritte auf der Treppe gehört, habe die Haustür geöffnet, ohne den Griff mit der Hand zu berühren, mir den Schal über die Nase gezogen und bin mit dem Fahrrad ins Grüne hinaus gefahren.

Solche Tage

Bestimmt gab es einen schönen Tag,
einen schönen Moment
in meinem Leben.
Einen Tag, an dem es "extra hell" war.
Die Sonne stand früh auf,
die Sonne wischte sich den Schlaf aus den Augen,
war munter,
hatte keinen geheimen Schmerz.

Diesen vergangenen Tag,
solche vernebelten Fetzentage,
versuche ich mir in Erinnerung zu rufen,
wenn ich mal einen schlechten Tag habe.
Oder die gefühlte Temperatur draußen
bei minus dreizehn Grad liegt.

Ich strenge dann mein Gedächtnis an.
Nebenbei höre ich
das Schnurren der Blumen,
die Stimme des Einsamkeit.

Und ich denke,
denke jetzt.
An solch schöne Tage,
die ich hatte.
Mehr als denken, kann ich
im Augenblick nicht.

Ein Lied

Mein Papa liebt traurige Musik.
Weil er ab und zu auch mal traurig ist.
Seine Großeltern sind gestorben,
an diesem Tag wird er traurig.
Seine Eltern sind auch gestorben,
an diesem Tag wird er auch traurig.
Und er weint.
Dabei hört er immer ein Lied,
und dieses Lied heißt:
"Ich habe vom Regen weinen gelernt."
Das Gegenteil von meinem Papa bin ich.
Ich bin fast immer glücklich.