Ursel Bäumer: Berlintagebuch – Juni 2022

Die Kastanien blühen rot und weiß, als ich in der Hiroshimastraße ankomme. Und das rote Gästehaus der Landesvertretung ist bis in den letzten Stock eingerüstet. An meinen Fenstern kleben rote Folien, die kaum Licht, geschweige denn den Blick auf Bäume durchlassen. Die Arbeiten der Maler begleiten mich die ersten zwei Wochen, das Schaben und Abkratzen des aufzutragenden Putzes, der rote Staub, der dick auf Fenster und Balkontür liegt und hereinweht. Stimmen polnisch, rumänisch, ich kann nicht genau sagen, welche Nationalität mich morgens weckt. Blaue Jeansbeine oder kräftige Waden von Oberkörper und Kopf durch Gerüstbretter abgeschnitten. Aber ich gewöhne mich, bewohne ein geräumiges Apartment und das Team des Hauses ist sehr bemüht, dass ich mich trotz der Baustelle wohlfühle. Und mehr und mehr gelingt es mir auch. Inzwischen sind die Malerarbeiten abgeschlossen, ich kann in Ruhe arbeiten, ohne dass mir jemand von draußen über die Schulter schaut. Nur das Gerüst steht noch.

Die Bremer Landesvertretung in Berlin
© Ursel Bäumer
Schild "Bremer Weg" in Berlin
© Ursel Bäumer

Die ersten Tage vergehen mit Touren in die nähere Umgebung. Und wie es der Zufall will, oder ist es kein Zufall? Eher eine Art Strategie, mich in der großen Stadt nicht zu verlieren, indem ich mich an das klammere, was ich kenne? Egal wie es passiert, jedenfalls treffe ich überall auf versteckte bremische Zeichen, wo immer ich hinkomme. Im Tiergarten auf den „Bremer Weg“, Bürgermeister Kaisen sei Dank, der 1950 unbürokratisch 30000 Bäume und Büsche nach Berlin schickte, die entlang dieses Weges gepflanzt wurden. (Das entsprechende Denkmal dazu gibt es natürlich auch dort.)

Auf dem Grünstreifen der Straße des 17. Junis entdecke ich „Der Rufer“ von Gerhard Marcks, offenbar eine Kopie der Bremer Skulptur, die bei Radio Bremen steht und erfahre beim Betreten der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz, dass der Architekt, Hans Scharoun, in Bremen geboren und in Bremerhaven aufgewachsen ist, deshalb wohl auch die runden Fenster, die an Bullaugen erinnern. Weniger überrascht bin ich in der Gemäldegalerie Bilder von Paula Modersohn-Becker, Heinrich Vogeler und Franz Radziwill zu finden, aber doch sehr, als ich in der Neuen Nationalgalerie in der Sonderausstellung zu den Künstlerbüchern von Gerhard Richter in der Vitrine einen Brief Richters an unseren ehemaligen Direktor der Bremer Kunsthalle Prof. Wulf Herzogenrath entdecke, auf den ich übrigens auch bei einer Ausstellung des Berliner Künstlers Michael Wesely treffe, ebenso wie auf Paavo Järvi, den künstlerischen Leiter der Bremer Kammerphilharmonie, in einem Konzert der Berliner Philharmoniker, in der Berliner Philharmonie, entworfen von dem in Bremen geborenen Architekten Scharoun. Alles Zufälle oder nur mein eingeschränkter Blick auf die Stadt?

Skulptur "Der Rufer" von Gerhard Marcks in Berlin
© Ursel Bäumer

Inzwischen hat sich etwas getan, ich bin dieses Heimatding im Blick offenbar ein wenig losgeworden.

Als wäre der Aufenthalt hier so eine Art Prüfstein, man muss seine Betrachtungsweise wählen, den Blickwinkel. Was sehe ich, was will ich sehen? Welche Wirklichkeit dringt zu mir vor? Welche lasse ich zu.

Zunächst sind es nur Bauten und breite Straßen, Lärm, Baustellen, Baukräne, Autos. Menschen und Gruppen gehen in Prachtstraßen, im Luxus, auf breiten Bürgersteigen, in monumentalen Prunkbauten und auf Plätzen in meiner Betrachtungsweise verloren, ich radele durch eine Stadt ohne Menschen geprägt von ehrfurchteinflößenden architektonischen Meisterwerken aus allen Jahrhunderten, von Alleen, Lärm und Verkehr.

Je länger ich hier bin, desto mehr scheint sich etwas zu verändern: Plötzlich sehe ich Farben und Muster in der Auslage des Stoffladens in der Akazienstraße, Tanzende um einen Gitarrenspieler am Savignyplatz, Picknickdecken im Tiergarten

und Lesende neben ihren Fahrrädern im Gras, Biergärten, Märkte mit jordanischem Olivenöl, selbstgemachter Marmelade und jungen Designerinnen mit Visitenkarten aus Spitze oder Stoffresten. Alles beziehungsvoll: Ein durchtätowiertes Pärchen auf dem Gehsteig, die weißen Handschuhe der Bibliothekarin in der Kunstbibliothek, die mir Bücher aushändigt, die Auslagen im Bücherbogen und der Autorenbuchhandlung, die Morgensonne im Zimmer beim Frühstück, die Glocken der Matthäuskirche an Pfingsten, die Boote auf dem Neuen See mit Ruderern, die durch mit Weidenblüten bedecktes Wasser ihre Bahnen ziehen. An jeder Ecke ein Museum, ein Café, ein Restaurant, unter fast jeder Brücke Obdachlose und Zelte. Und die Erinnerung an Verfolgung, Widerstand und Teilung, Mahnmale der traurigen Geschichte Berlins, überall in der Stadt präsent.

Mein Blick ist offener geworden, zum Glück, deshalb bin ich hier und um damit zu arbeiten.

Ich kann die Stadt jetzt aushalten, ohne mich verloren zu fühlen oder erschlagen zu werden. Ich erobere sie mir Tag für Tag häppchenweise.

Und ist es ein Zufall, dass zeitgleich mit meinem veränderten Blick heute das Gerüst abgebaut wurde? Dass ich jetzt völlig ungehindert aus meinem Fenster auf den Garten der Landesvertretung schaue und auf der Dachterrasse im 6. Stock stehe und ganz Berlin mir zu Füßen liegt?  Vielleicht entstehen diese Gedanken auch nur unter dem Einfluss meiner zahlreichen Museumsbesuche, der spirituellen Kraft der Masken und Totemfiguren im Ethnologischen Museum oder der Schicksalsgöttinnen auf den Bildteppichen im Kunstgewerbemuseum oder dem Einfluss der Surrealisten, deren Bilder ich in der Scharf-Gerstenberg Sammlung gesehen habe, ihr Glaube an gewisse bis dahin vernachlässigte Assoziationsformen und das zweckfreie Spiel des Denkens. Egal wie alles zusammenhängt, wichtig ist nur, dass ich offenbar in Berlin inzwischen gelernt habe, wieder an so etwas wie Zauber zu glauben.

Blick vom Dach der Bremer Landesvertretung in Berlin
© Ursel Bäumer

Porträt von Ursel Bäumer
© Melanie Hammer

Ursel Bäumer, geboren in Münster, lebt als freie Autorin in Bremen. Sie studierte und arbeitete als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin in Münster, Bielefeld und Bremen, initiierte und leitete von 2005-2014 „workshop literatur e.V.“, einen Verein, der in Kooperation mit vielen Bremer Literaturinstitutionen Literaturworkshops und Lesungen für Bremer Oberstufenschüler*innen organisierte. 

Sie schreibt Kurzprosa, Erzählungen und Romane und arbeitet gern an gemeinsamen Projekten mit bildenden Künstler*innen, Musiker*innen und Wissenschaftler*innen. 2007 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium in Berlin/Rheinsberg, 2013 in der Cité Internationale des Arts Paris, wo sie in den letzten Jahren unter anderem für das aktuelle Buchprojekt Maman recherchierte.

www.ursel-baeumer.de

Zum eingereichten Text von Ursel Bäumer und der Begründung der Jury geht es hier