Meike Dannenberg vom 27. April bis 1. Mai 2020
Meike Dannenberg, geb. 1974 in Bremen, begann während des Studiums der angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg, für verschiedene Medien zu schreiben. Seit 2010 ist sie Redakteurin des BÜCHERmagazins und ist außerdem Krimi-Autorin. Meike Dannenberg wohnt mit ihrer Familie in Bremen.
Tag 1, Montag, 27. April 2020
Schreiben zu Zeiten von Corona
Ich weiß, was ich NICHT schreibe. Ich arbeite nicht an meinem Roman, nicht an meinem Krimiplot. Der Krimi erscheint mir gerade zu banal und der Roman ist zwar fast fertig, aber da ist diese Atmosphäre: Aufbruch, Frühling, Jugend. Dieses Erwachen der Protagonistin ist schön und verheißungsvoll, aber ich höre frühmorgens meinen Mann im Bad husten. Das tut er immer, er ist ein richtiger Schnaufer, Allergiker, das hält mich auch sonst wach, aber im Moment klopft mein Herz dann schneller. Kurz vor Sonnenaufgang ist die Stunde der Angst und ich denke darüber nach, wer sich um unser Kind kümmert, wenn wir beide ins Krankenhaus müssten. Meine siebzigjährige Mutter?!
Stream of Consciousness heißt es, wenn man den Stift aufs Papier setzt und einfach drauf los schreibt. Ich nutze das gelegentlich, um mentalen Ballast abzuwerfen, um kreativ arbeiten zu können, doch im Moment ist alles nur Stream of Corona. Neulich erzählte mir eine Kollegin von ihrem Roman-Journal, dort hält sie fest, woran sie beim nächsten Mal, wenn sie Zeit hat (zwei Kinder, ein Brotjob im Homeoffice) im Manuskript arbeiten möchte, weil sie sonst völlig den Faden verliert. Die erste Assoziation, die daraufhin in meinem neuen Journal landete, war, dass ich gerne mit Peter Wohlleben sprechen würde. Er soll mir erklären, wie das ist mit dem gestressten Wald, der angeblich sogar den Stresspegel eines Menschen beeinflussen kann. Wenn mich sogar ein Wald stressen könnte, dann ist es ja kein Wunder, dass ich verkrampft aus einem Supermarkt komme und heulen möchte. Wir eiern mittlerweile so um einander herum, das Ganze erinnert mich zunehmend an einen erzwungenen Tanz. Welchen Soundtrack mag der „Corona-Step“ haben? Irgendwas Computer-Generiertes, Ambient vielleicht. Da war etwas Seltsames an den Ambient-Partys, Anfang der Neunziger, man konnte springen, Arme und Beine in alle Richtungen werfen und nie traf oder trat man jemanden. Kontaktarme Musik. Also Ambient. Nicht die Ode an die …
Verschlafenes Kind: „Darf ich Fernseh gucken?“
„Was? Nein!“
„Warum nicht?“ Maulig.
Es ist neun Uhr. Du musst frühstücken, bei itslearning schauen, ob da neue Aufgaben sind. Der Computer …“
„Ich mach das auf deinem Handy!“
„…“
Nicht mehr ganz so verschlafenes Kind: „Was!? Wir sollen jetzt mit der Mai-Aufgabe fürs Baumtagebuch beginnen?, ich hab doch noch nicht mal…!“
Ich bezweifle, dass Ambient der Soundtrack ist, eher Neue Musik, irgendwas mit Rückkopplung.
(Vierzig Minuten später telefoniert das Kind mit einer Klassenkameradin. Auf ihren Hausaufgaben-Zoom haben sie keine Lust mehr, das hat alle gestresst, auch wenn es gut war, zu sehen, dass sie alle vor den gleichen Problemen sitzen: ein Berg, der nicht kleiner wird, Aufgaben kommen dazu, keiner weiß mehr genau, was wann fertig werden soll.)
Alleine ist doof. Zusammen vor dem Bildschirm aber auch.
Wir sind alle dünnhäutig im Moment. Ich taue Safranwecken auf.
Stream of Corona, wo war ich?
Eine Bekannte erzählte, sie käme im Moment so wenig dazu, an ihrem Buch zu arbeiten, dass sie sich ein Roman-Journal angelegt hat … Eine Erfahrung seit Corona: Ich mache viele Dinge zwei Mal, wegen der Unterbrechungen. Über Ambient hatte damals ein Freund gesagt, diese Musik sei wie ein Kleiderschrank, man hänge sich einfach rein. Jetzt hängen wir im Corona-Schrank und wenn mein Mann hustet, zieht sich die Schlinge um den Hals enger.
Ich habe noch weiter recherchiert, über die Verbindung von Bäumen untereinander. Mykorrhiza hieße das Netz aus Feinbodenpilzen, das die Bäume im Wald miteinander verbindet. Der Pilz ist abhängig von den Bäumen, die Kommunikation erfolgt über einen Austausch von Nährstoffen. „Wood-Wide-Web“ nannte der Wissenschaftler in der GEO das. Wenn sogar die Bäume so verbunden sind, und mein Herz schneller schlägt, wenn mein Mann hustet, was sagt das dann über den Soundtrack aus, dem wir uns täglich aussetzen?
Vielleicht müssen wir den ändern. In Walzer, oder so. Irgendwas mit Anfassen, zumindest mental, etwas Geschmeidiges, das verbindet, obwohl alle so fern sind.
Tag 2, Dienstag, 28. April 2020
Gestern schrieb ich, der Krimi, an dem ich arbeite, käme mir im Moment so banal vor. Das hat mich den Rest des Tages beschäftigt, denn das Thema ist ganz und gar nicht banal: Es geht um Vergewaltigung. Mir kommt es eher banal vor, die Realität in einen spannenden, unterhaltsamen Plot zu gießen, wenn die Realität so wenig unterhaltsam ist. Dabei war das, siehe unten, schon vor Corona ein Problem, doch plötzlich sitze ich obendrein an einem historischen Roman. Historisch, weil die Zeit sich derart geändert hat, dass alles fern und vergangen erscheint. Der Roman beginnt im Taumel einer Sommernacht, Menschen sind in den Parks und Straßen unterwegs, Zweisamkeit, Gemeinsamkeit, Gelächter. Es gibt Restaurantbesuche, Partys. Und sexuelle Übergriffe, auch eine schwere Vergewaltigung, bei der das Opfer misshandelt wird.
Zum Schreiben gehört für mich als Krimiautorin Recherche. Und was diese zutage förderte, erschreckte mich (vor allem als Mutter einer Tochter, die irgendwann flügge werden wird): Bremen hatte in der Polizeilichen Kriminalstatistik 2018 die höchste Anzeigenrate im Bezug auf schwere Vergewaltigung, sexuelle Nötigung oder Übergriffe (einschl. mit Todesfolge) nach §177,178 StGB im ganzen Bundesgebiet.
Glauben Sie nicht? Ich hoffe auch immer noch, irgendein kruder Rechenfehler ist am Werk. Aber ich hatte mehrfach nachgerechnet: In Bremen wurden 2018 149 Anzeigen wegen der oben genannten Vergehen aufgenommen, es gab 683.000 Einwohner, das macht einen Prozentsatz von 0,02182.
In Hamburg waren es bei 211 Anzeigen bei 1.841.000 Einwohnern = 0,01146 %, also etwa halb so viele Anzeigen auf Einwohner gerechnet.
Ja, jetzt kommt das Argument mit den Stadtstaaten.
Ohne Bremerhaven, also nur Bremen Stadt (127 Anzeigen auf 569.000 Einwohner) sind es immer noch 0,02232 Prozent.
Berlin: 768 Anzeigen auf 3.645.000 Einwohner = 0,0210 Prozent. Köln, 238 Anzeigen, aber bei 1.085.664 Einwohner knapp hinter Bremen: 0,02192 Prozent. Und so geht das immer weiter.
Ich habe den Prozentsatz für alle Bundesländer und vergleichbare Städte ausgerechnet, wurde richtig manisch. Nicht allen Krimiautoren ist die Realität wichtig, sie stört manchmal sogar. Die Zahlen haben mich auch eingeschüchtert, meine Geschichte gebremst. Wie kann ich dem gerecht werden? Was hat das zu bedeuten, wo kommt es her? Ist 2018 nur ein zufälliger Ausreißer?
Die Kriminalstatistik 2019 ist seit kurzem online. Und ja, es sind nur winzige Abweichungen, zweite oder dritte Nachkommastelle. Aber wenn ich davon ausgehe, dass die Hälfte der Bremer Frauen sind (ohne Kinder rauszurechnen), zeigt etwa eine von 4500 Frauen eine schwere Vergewaltigung an, in Hamburg nur eine von 9000. Zeigt an, wohlgemerkt. Man könnte überlegen, ob Bremerinnen offensiver sind, wenn es um Anzeigenerstattung geht. Ebenso das sogenannte Dunkelfeld. Dieses wird nach einer Studie, erwähnt im BKA Viktimisierungsservey 2017, bei Sexualdelikten übrigens auf mindesten sieben Mal höher geschätzt Das ist die Krux bei Statistiken. Diese Zahlen haben mich traurig gemacht. Pisa-Schlusslicht und Vergewaltigungsspitze? Unklar auch, warum in den neuen Bundesländern deutlich weniger Vergewaltigungen angezeigt werden. Auch hier haben sich Zweifel gemeldet.
Was bedeutet das nun fürs „Schreiben“ und vor allem „zu Zeiten von Corona“?
Das Thema ist nicht banal! Ganz im Gegenteil, die meisten Sexualstraftaten finden im nahen Bekanntenkreis, Familienumfeld oder in Partnerschaften statt. Und ich befürchte, die Anzeigen werden zurückgehen, weil alles, das menschliche Interaktion betrifft, im Moment schwierig ist. Eine Spurensicherung am Körper ist ein sehr intimer Akt.
Der Park erscheint mir plötzlich sicherer. Obwohl mir der Gedanke naiv vorkommt, ein Vergewaltiger hätte mehr Angst vor Corona als vor der Polizei.
Das Buch wartet darauf, dass ich weiterschreibe, der Krisenmodus muss sich nur erst wieder verlagern.
(Quellen: PKS Jahrbuch 2018 S. V10, Viktimisierungsservey BKA 2017, Einwohnerzahlen Statista.de)
Tag 3, Mittwoch, 29. April 2020
Der Corono-Familienknast lässt uns rotieren. Manchmal wird der Ton rau, vor allem, wenn Zettel weg sind und schlechte Laune aufkommt, weil Geräte oder Materialien nicht verfügbar scheinen. Dann bricht für einen Moment alles zusammen, die mühsam zusammengefaltete Stimme will sich blähen, ausbrechen aus dem freundlich, hilfsbereiten Ton-Korsett. Aber was kann das Kind dafür, dass es in seinem Alter dazu genötigt wird, sich an Tagen wie diesem – linker Fuß vorm Bett, grauer Himmel – alleine zu mehreren Stunden Heimarbeit zu motivieren?
Ich durchforste mein Hirn nach den Dingen, die uns derzeit Struktur geben und die Laune heben.
1) Ausmisten: Wahrscheinlich hätten wir ohne die erzwungene Zeit niemals das Kinderzimmer so effizient in ein Jugendzimmer verwandelt. Müllsäcke voll mit Ausmalbildern, Plastikfigürchen, zerbrochenen Flummis und Kram, der Kindern in unserer Konsumgesellschaft fast aufgenötigt wird, von der Plastikkatze als Flohmarktgeschenk (Bitte Kind, sag einfach Nein!) bis zum jährlichen Aufkleber-Sammelfiguren-Album-Wahnsinn in der Weihnachtszeit. Fünf Mal füllten wir die Kiste vor der Haustür mit Spielzeug, Büchern, Murmeln und Kleinkram, verschickten Pakete, motteten das Playmobil für die Zeit ein, in der es wieder Flohmärkte gibt, stellten die Möbel um und Sachen im Internet ein.
2) Bewegung in den vier Wänden: Von dem Geld hat sich das Kind eine Turnmatte gekauft. Airtrack, wie ich lernte. Die Kohlefasern in der Luftkammer machen so ein interessantes Geräusch: Whuum, Whuum, manchmal knallt sie auch auf den Boden, wenn eine Ecke sich durch den Schwung hebt, Wapp. Das hat also, wie vieles gerade, zwei Seiten, aber Handstand, Radschlag und ‑wende, das läuft. Den ganzen Tag, über den Tag verteilt. Wir finden das gut, obwohl es im Wohnzimmer stattfindet. Vor Corona wären wir durchgedreht, aber jetzt ist das irgendwie in Ordnung. Die Akrobatikgruppe des Bremer Zirkusviertels probt während der Zoom-Stunden gerade Sofa-Kunststücke, um sie zu einer Online-Zirkusshow zusammenzuschneiden. Das Kind probiert, was sich von der Turnmatte aufs Sofa übertragen lässt. (Ruhig bleiben!)
3) Wichtel: In Hamburg hat jemand an einem Baumstamm ein Wichtelhaus gebaut, kleine Tür, Tischchen, Namensschild. Sehr niedlich und weil die Idee so einleuchtend ist, (Spielplätze gesperrt), ist der Schanzenpark jetzt mit Wichteln bevölkert, die man zwar nicht sieht, aber ihre Häuschen. Also: Wichtelhaus für Bürgerpark bauen! Wir waren beunruhigt, dass die Laune sinken könnte, wenn es jemand abräumt, schließlich ist es ein öffentlicher Park. Aber nach drei Tagen tauchten stattdessen ein Marienkäfer, ein winziger Kürbis und ein Bild in dem Ensemble auf, die Gegenstände wurden verrückt. Das Kind ist entzückt. Ich träume von einem Bürgerpark voller Wichtelhäuschen, während und nach Corona.
4) Kisten in den Straßen: Wir gehen spazieren, das tun wir sonst eher im Wald, aber hier finden wir Dinge. Mein Mann verfolgt seit Jahren das Prinzip erratischer Bildung. Wenn er von einem Thema eines Buches keine Ahnung hat, sieht er es als Zeichen und nimmt es mit: Zoologie der wirbellosen Tiere, Bionik, Kunst aus Altvorderasien und Ägypten. Er hat mich über die Knotenschrift der Inkas informiert, so profitieren wir alle. Im Moment ist die Zeit gut für Horizonterweiterung, überall in unserer Gegend stehen Bücherkisten. Neulich hat er „Porträt zeichnen“ aufgesammelt, das Buch aus den Achtzigern ist nicht so streng naturalistisch, da wird auch gekrickelt, das Kind schloss sich an. Mein Mann sagt, und ich bin froh drum, dass er das nicht tut, wenn er hier in der Gegend Soziologie, Philosophie und politisches Sachbuch mitnehmen würde, müssten wir anbauen.
5) Brettspiele: Wir spielen auch sonst Brettspiele. Seit einigen Tagen wird mit einer weiteren Familie über Brettspiel.de und Boardgamearena.com gespielt. Parallel läuft ein Video, damit man sich über die Tonspur unterhalten kann. Aber es wurden auch schon Computer auf Bücherstapeln schräg gestellt, im Auge der Kamera das Spielbrett eines Spiels, das beide Familien besitzen. Ging auch irgendwie.
Das alles aufzuschreiben, was unser Leben derzeit bereichert, hat jetzt tatsächlich etwas genutzt, ich lächle und bin gerührt. Wir Menschen sind so unglaublich gut, kreative Lösungen für Probleme zu entwickeln, wir müssen uns nur daran erinnern. Und inzwischen sind auch die Hausaufgaben erledigt.
Tag 4, Donnerstag, 30. April 2020
Heute wollte ich über die Angst schreiben, aber dann bekam ich Angst, dass ich jammere. Das gefällt mir im Moment nicht besonders: Ich habe sehr große, immer wieder aufflammende Angst, reflexartig werde ich von Freunden beruhigt. Niemand möchte, dass das, was ich empfinde, näher an der Realität liegen könnte als ein vermeintliches Sicherheitsgefühl. Aber wer weiß das schon so genau? Auf jeden Fall ist es unangenehm – mir und meinem Gegenüber –, dass ich ständig als Cassandra herumunke, aber ich kann nicht so recht aus meiner Haut. Ich hatte das vor Corona schon, wir sind enge Vertraute, die Angst und ich.
Neulich hielt ein junger Mann vor unserer Vorgartentür, wir hatten da diese Verschenkekiste stehen, und er suchte sich etwas für seine noch recht kleinen Kinder raus, während ich eine Blume eintopfte.
„Fünf und drei Jahre?“, sagte ich. „Wie kommt ihr klar?“
„Tja, gereizt“, antworte er. Er hatte dunkle Schatten um die Augen. Er sagte, dass er nicht verstehe, was das alles solle, Schweden, und alles gar nicht so schlimm.
Ich sagte, ich könne das alles sehr gut verstehen, sei fast froh darum, dass die Regeln meinen Ängsten so entsprächen, dann müsste ich mich nicht als nervöses Nervenbündel outen. Ich meinte, dass das bestimmt durch meine Erkrankung käme, dass ich wisse, wie es sich anfühlt, vom eigenen Körper verraten zu werden (Ich habe keine Haare).
Er guckte ein wenig mitleidig. Randgruppe. Klar. Dann sagte ich, dass Lebenserfahrungen unsere Ängste prägen und dass die Politiker (Altersdurchschnitt fünfzig) sicher überwiegend schon Erfahrungen mit Krankheit und Tod im näheren Umfeld gemacht hätten. Er sei doch wahrscheinlich gerade mal dreißig, oder?
Unser Gespräch wurde unterbrochen, er war sicher sehr froh darüber. In meinem Kopf lief es noch weiter. Ich wollte ihm erklären, dass ich damit meinte, die Politiker seien nicht objektiv, genau wie ich. Anhand der Zahlen ist es objektiv nicht zu erwarten, dass sowohl mein Mann als auch ich sterben werden, und trotzdem habe ich dazu in vielen Nächten Alp-Wachträume.
Morgens um Vier ist die Stunde des Wolfes.
Am Anfang der Pandemie, als „Triage“ zur Realität in den Nachbarländern wurde, scherzte ich, ich würde mir mit Edding: „Das ist kein Krebs, sieht nur so aus“, auf die Glatze schreiben. Es war nur ein halber Scherz, denn das Gefühl, als Mensch in gesund, alt, jung, schön, gebildet oder ungebildet kategorisiert zu werden, ist ein sehr bedrohliches Szenario, das allerdings auch unterschwellig in sozialer Interaktion mitläuft.
Ich habe es, und das ist natürlich subjektiv, schon häufiger so empfunden, dass ich ohne Perücke gleichzeitig als arm wahrgenommen wurde. Eine seltsame Kausalität, die etwas damit zu tun haben könnte, dass mir auch manchmal im Job anscheinend weniger zugetraut wurde. Oder als Kleingärtnerin (wobei unser Garten für sich spricht, wir können das tatsächlich nicht so besonders gut). Und natürlich ist es eine unbotmäßige Unterstellung, dass im Krankenhaus nicht die tatsächliche Ursache einer solch verwirrenden Erkrankung erfasst und verstanden werden könnte. Ich kann also froh sein, nur kahl und nicht achtzig plus zu sein, aber in dem Falle würde ich womöglich über eine Botox-Behandlung nachdenken und versuchen, mir falsche Papiere zu beschaffen, wenn die Zahlen bedrohlich stiegen.
Mein Mann ist hier der Pragmatiker. Er sagt, es ginge sowieso nicht um die Menschen oder den Schutz von Randgruppen, sondern darum, dass wir nicht in der Lage seien, die Wirkung einer Exponentialfunktion zu erfassen. Wenn man die dann versteht, wäre es bereits zu spät, dann wäre nicht nur das Gesundheitssystem am Ende, sondern die Wirtschaft gleich mit, weil in Deutschland rund 11 Millionen Menschen gleichzeitig mit Fieber im Bett lägen.
Ich schaue mir die „Übersterblichkeit“ an und denke, bald wissen wir mehr, und dann habe ich hoffentlich nicht mehr so viel Angst. Oder noch mehr, wer weiß das schon. Aber es tut mir leid, dass ich den jungen Mann so abgekanzelt habe, er hat das Recht, keine Angst zu haben. Ich beneide ihn darum und werde nicht über persönliche Wahrheiten streiten. Zum Glück gibt es Regeln von Menschen, die so viel Angst haben wie ich.
Tag 5, Freitag, 1. Mai 2020
Heute ist Feiertag. Seit fast zwanzig Jahren arbeite ich im Homeoffice und Feiertage sind wichtig. Sie sind nicht dazu da, die Sachen nachzuholen, die man an anderen Tagen nicht geschafft hat! Ja, ich weiß: Außer man hat nichts geschafft und viel zu tun und das Wochenende (oder der Feiertag) fühlten sich schon vorher an wie eine besonders geeignete Zeit, in der man viel mehr tun könnte. Hah! Wenn es vorher nicht geklappt hat, ändert auch die Tatsache, dass die Geschäfte geschlossen sind, wenig, vor allem jetzt. Im Gegenteil, es wird sich ungerecht anfühlen, an einem Tag zu arbeiten, der normalerweise frei wäre.
Heute ist also Zeit für etwas anderes.
(Aber ein Tipp zum Homeoffice für die, die allein zu Hause sind: Lichtwecker kaufen, auf fünf stellen. Und To-Do-Listen in Spalten aufbauen, sodass auch Haushalt und allgemeiner Orga-Kram Platz findet. Es ist außerdem leichter, um elf einen Timer auf eine Stunde zu stellen, in dieser Zeit das Bad zu putzen, einen Kaffee zu trinken und zu telefonieren und anschließend weiterzuarbeiten, als demotiviert auf den Rechner zu starren. Das mentale Äquivalent zu Bleistiftanspitzen hat ja keinen Sinn, wenn es niemand sieht.)
Die BÜCHER-Redaktion, zu der ich gehöre, hat in den letzten zwei Wochen alles nachgeholt, was vorher liegen geblieben ist, gestern war das nächste Heft pünktlich fertig. Natürlich waren die Bedingungen erschwert. Es gibt bei uns im Team eine Mutter von dreijährigen Zwillingen und zwei weitere Mütter mit Kindern unter fünf. Wir sind übrigens alles Frauen, und bei den meisten ging der Großteil der Familienarbeitskapazitäten für die Jobs der Männer drauf.
Bei unserem ersten Zoom-Meeting vor etwa vier Wochen stellten wir obendrein deprimiert fest, dass wir, leidenschaftliche Leserinnen, Schwierigkeiten hatten, uns auf Bücher zu konzentrieren, selbst wenn Zeit da war. Ein echter Schock! Wir waren irritiert, es zeigte, wie viel aus dem Gleichgewicht geraten war. Inzwischen haben wir lesen müssen. Ich kann sagen, dass es hilfreich ist. Es dauert zwar länger, sich auf ein Buch einzulassen, aber der Gewinn ist auch größer. Für eine Zeit ist man wieder woanders, bei anderen Menschen mit Corona-freien Schicksalen, das Hirn wird mit anderen Themen stimuliert.
Ich war hocherfreut, als die Buchhandlungen wieder öffneten, obwohl ich befürchte, dass viele Menschen gerade das Gefühl haben, während der Lektüre eines Buches etwas Wichtiges zu verpassen, wir sind ja in Alarmbereitschaft. Aber das ist nur der innere Zustand, der äußere verordnet Ruhe und Distanz. Vielleicht ist es auch diese Diskrepanz, die unsere Synapsen so sehr strapaziert, ein Buch kann also Abhilfe schaffen, zumindest gegen das Zappeln. Und deshalb hier ein paar Buchtipps zum Feiertag – Romane, die mich und meine Kolleginnen in den letzten Wochen wieder ins Lot gebracht haben, indem sie uns emotional und intellektuell berührten:
Für mich war eine besondere Entdeckung die Biographie von Natalia Ginzburg, ich brauchte nur wenige Sätze zu lesen und ich war bei Sandra Petrignani, die als junge Frau Natalia Ginzburg in ihrer Wohnung besuchte. Petrignani ist selbst erfolgreiche Schriftstellerin und erzählt aus ihrer Perspektive, wie sie Stück für Stück mehr über Natalias Leben erfährt, beschreibt Gespräche oder Briefe, Begegnungen mit Freunden der Autorin und Verlegerin. Als ich das las, spürte ich die Liebe zur Literatur der beide Frauen, die ihr ihr ganzes Leben widmeten, und wusste wieder, warum ich tue, was ich tue.
Meine Kollegin Tina, Liebhaberin der Bücher von Siri Hustvedt, nannte als eines ihrer Lieblingsbücher des Frühlings „Je tiefer die Wasser“ von Katya Apekina, in dem es um Schwestern geht, die zu dem entfremdeten Vater, einem Schriftsteller, nach New York kommen, nachdem die Mutter „etwas Dummes“ getan hat. Kunst, die Metropole, das seltsame Familienkonstrukt, der Roman hat viele spannende Aspekte.
Gefesselt hat sie auch die Lektüre der Abenteuergeschichte von Christopher Kloeble über einen hochbegabten indischen Waisenjungen, der 1854 zwei deutsche Brüder bei ihren Reisen bis zum Himalaya begleitete – mit dem Wunsch, später ein Museum seines riesigen Landes zu gründen „Das Museum der Welt“.
Da ich das Ressort Krimi betreue, freue ich mich immer wieder über Kriminalromane, die so viel mehr sind, als nur eine spannende Geschichte. „Miracle Creek“ von Angie Kim entwickelt vom ersten Augenblick an einen Sog, der dann aber weniger in eine getriebene Kriminalgeschichte führt als in eine intelligente und schonungslose Gesellschaftsanalyse, in deren Zentrum eine Familie koreanischer Einwanderer und eine Gruppe Mütter von Kindern mit Behinderungen stehen. Trotzdem gibt es ein Verbrechen, aber von wem, das klärt sich erst während eines Prozesses, der aus verschiedenen Perspektiven geschildert wird.
Auch meine Kollegin Katharina, die das Hörbuch betreut, kann verstehen, warum wir und das Kind, uns so auf den dritten Teil von „Kannawoniwasein!“ freuen. Das Buch scheint unter Eltern bereits Kreise zu ziehen. In den Geschichten über die Freunde Finn und Jola aus der „Tzitti“ geht es im besten Sinne abenteuerlich zu, und Jolas „Berliner Schnauze“ wird von Stefan Kaminski genial gelesen. Leider dauert es noch bis Juni zum dritten Teil, aber den ersten und zweiten Band gibt es ja schon, läuft hier rauf und runter.
Ich könnte die Liste noch fortsetzen, aber ich möchte die Länge dieses Blogs nicht weiter überstrapazieren. Vor allem möchte ich zeigen, dass das Reisen nicht ganz vorbei ist: zwischen zwei Buchdeckeln fand ich, wie immer, eine ganze Welt. Und wie gesagt: Heute ist Feiertag, bauen Sie ein Wichtelhaus und bringen sie es in den Park, gute Laune bei anderen hebt auch die eigene. Wir sind ein Wald und tanzen den Corona-Walzer.
Bleiben Sie gesund!
PS: Hier die Übersicht zu den erwähnten Büchern:
Sandra Petrignani: Die Freibeuterin, Randomhouse/btb
Katya Apekina: Je tiefer die Wasser, Suhrkamp Verlag
Christopher Kloeble: Das Museum der Welt, dtv
Angie Kim: Miracle Creek, hanserblau
Martin Muser: Kannawoniwasein! Gelesen von Stefan Kaminski, Silberfisch
Die Nächste Ausgabe des BÜCHERmagazins erscheint am 20.05. im falkemedia Verlag.