Werkstattheft MiniLit Nr. 9 - mit Janine Lancker
Während der Werkstatt ›Dann leben sie noch heute …!‹ sind folgende Texte entstanden, die in einem Werkstattheft unserer Reihe MiniLit (Nr. 9) veröffentlicht wurden.
Vogel werden
Ich nehme mein Schwesterchen an die Hand. Ihre Hand ist klein und warm. Mein Schwesterchen spricht nicht viel, hat noch nie viel gesprochen. Schon mit dem ersten Wort hat sie sich lange Zeit gelassen. Sie zeigte auf eine Ente und rief: „Voooogel!“ Sie sprach immer wieder dieses Wort aus, als wollte sie prüfen, ob sie es noch konnte. Sie freute sich jedes Mal, wenn es ihr gelang, lachte dann, und wir lachten auch. Wir freuten uns, dass sie nun zu sprechen begonnen hatte.
In letzter Zeit schläft Mama ziemlich viel. Ein bisschen wie Dornröschen, hat Papa erklärt, weil es eine Weile dauern wird, bis sie nicht mehr so müde ist. Morgens besuchen wir sie in ihrem Zimmer. Die Vorhänge sind zugezogen. Mama liegt unter der Daunendecke, streckt ihre Hand aus und streicht uns über den Kopf. Dann laufen wir los, Hand in Hand, nach draußen in den Park, zum Ententeich.
Meine Schwester sagt „Stein“. Beim Ententeich spielen wir, dass wir Steine sind. Ein großer und ein kleiner Stein. Wir knien uns auf den Boden, machen uns kugelrund, bleiben einfach so. Wir dürfen nur flach atmen und keine Geräusche machen, denn die Leute, die vorbeigehen, sollen nicht sehen, dass wir keine Steine sind; und sie erkennen uns tatsächlich nicht, obwohl wir manchmal kichern müssen. Sogar Papa fällt darauf herein, als er uns zum Essen ruft. Wir wollen noch nicht nach Hause, wollen noch eine Weile Steine bleiben. Erst als die Dämmerung einsetzt, gehen wir zurück. Mein Schwesterchen sagt: „Vergiss mich nicht!“ Ihre Hand liegt klein und warm in meiner.
„Nein, ich vergess’ dich nicht, und du vergisst mich auch nicht.“
Sie blickt nach unten, setzt hastig einen Fuß vor den anderen und sagt: „Nimmermehr!“
Am Tag danach ist Mama immer noch müde. Sie streicht uns über den Kopf, richtet sich mühsam auf, beugt sich nach vorne und gibt uns einen Kuss auf die Stirn. Dann fällt sie zurück in die Kissen und schläft weiter. Wir spielen wieder am Teich, legen uns auf den Bauch. Jetzt sind wir das Gras. Gras war das dritte Wort, das meine Schwester in ihrem Leben gesprochen hat. Die Leute spazieren über uns hinweg, die Hunde tollen auf uns herum, die Kinder spielen Frisbee und Federball auf uns. Wir werden besser, können uns zusammenreißen, unser Kichern unterdrücken. Nur manchmal entwischt uns noch ein kleines Glucksen. Wieder findet uns Papa nicht, als er uns zum Essen ruft. Wir wollen jetzt nicht zurück, es ist einfach noch zu schön, Gras zu sein.
Also bleiben wir so, bis die Dämmerung einsetzt. Mein Schwesterchen fragt: „Du vergisst mich doch nicht, oder?“
„Nein, ich vergess’ dich nicht, und du vergisst mich auch nicht.“
„Nimmermehr“, sagt sie und drückt fest meine Hand.
Am nächsten Tag sitzt Mama aufrecht im Bett, hat bereits auf uns gewartet, streicht uns über den Kopf und küsst uns auf die Stirn. Dann sind wir schon wieder am Teich.
Wir setzen uns ans Ufer, wollen so still sein wie das Wasser, das schweigend vor uns liegt. Wir sind gut geworden, schaffen es, kein einziges Wort zu sprechen. Als Papa uns zum Essen ruft, erkennt er uns nicht. Wir sind eins geworden mit dem Teich. Bald wird es dunkel, aber ein bisschen wollen wir noch bleiben.
„Du vergisst mich nicht und ich vergess’ dich auch nicht!“, erklärt mein Schwesterchen mit fester Stimme.
„Nimmermehr“, sage ich.
Sie nickt zufrieden. Eine Stimme ruft nach uns, sie klingt vertraut, wir haben sie lange vermisst. Meine Schwester lässt überrascht meine Hand los und dreht sich um. Unsere Mutter kommt ans Ufer gelaufen und setzt sich zu uns. Auch sie ist ganz still, ist jetzt wie wir eins mit dem Teich.
Wind kommt auf und mit ihm erhebe ich mich in die Luft. Mit ein paar Flügelschlägen gelange ich zur Mitte des Teiches, lasse mich auf dem Wasser nieder. Es ist kalt, umspielt meine Federn, kühlt meinen Bauch. Ich sehe, wie meine Schwester etwas zu meiner Mutter sagt und ihre Lippen Worte formen, aber ich kann sie nicht verstehen. Die Dämmerung hat eingesetzt. Ich sehne mich nach dem Grund unter mir, die Sehnsucht steigt langsam immer weiter in mir auf, bis sie beginnt, unter meinem Gefieder zu pulsieren.
Meine Schwester und meine Mutter blicken in meine Richtung, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich sehen können oder durch mich hindurchblicken auf die Landschaft hinter mir. Ich breite meine Flügel aus, schlage ein paar Mal in die Luft, ohne abzuheben, spreize noch einmal die Federn, lege die Flügel wieder an, halte meinen Vogelleib gespannt und tauche, Schnabel voran, zum Grund hinab.
(Adaption von »Fundevogel«)
Hinter der Rosenhecke
Die Blätter schlugen mir ins Gesicht. Ein paar Schritte vor mir hatte Bertha sich durch das grüne Dickicht gewühlt. Ich folgte ihr. Farne, Schmetterlingsbäume, hüfthohe Brennnesseln, die sogar durch unsere Kleidung stachen. Meine Haut brannte. Rosenranken türmten sich hoch über uns auf, ihre dornigen Widerhaken bohrten sich durch meine Jacke und hielten mich fest. Von weiter vorne hörte ich Bertha murmeln: „Rosa canina, Rosa bracteata, Rosa phoenicia Boiss, Urtica dioica, Osmunda regalis, Buddleja davidii …“
„Bertha! Wie kommst du so schnell da durch?“
Bertha blieb stehen. Ich kämpfte mich weiter voran. Um einige Schrammen reicher, gelangte ich schließlich bei ihr an. Mit einem Taschenmesser schnitt sie soeben einen Rosenzweig ab, der eine Knospe, Blätter und Dornen trug.
Sie steckte ihn in ihren Rucksack. „Für später“, sagte sie.
Ich nickte, zog meine Kamera hervor und dokumentierte meine Verletzungen. „Fotografier auch noch die Trollblume und den Grünen Nieswurz! Die sind auf der Roten Liste der aussterbenden Arten. Ich habe die jahrelang nicht mehr gesehen.“
Ich fotografierte die Blumen, auf die Bertha zeigte. Die gelben Blüten der einen lagen übereinander wie ein zerknautschtes misslauniges Gesicht.
„Los, weiter!“, drängte Bertha.
Wir hörten nur das Rascheln der Blätter und unsere Schritte.
Wo waren die Vögel? Wo waren die Käfer, Schmetterlinge und anderen Insekten? Wir standen jetzt inmitten von Dornenbüschen. Es war dunkel um uns herum. Ein bisschen Licht fiel nur durch einen kleinen Durchgang hinter uns, der sich – bildete ich mir das ein? – langsam wieder schloss.
„Zeit für die Machete?“, fragte ich unsicher.
„Ich fürchte, ja.“
Bertha holte die Machete aus ihrem Rucksack. Sie lag sicher in ihren sehnigen, starken Händen und bahnte uns einen Weg durch das Geäst. Ich hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Ich schaute auf mein Handy. Zwei Stunden schlugen wir uns schon durch diese wilde Vegetation. Plötzlich ein scheppernder Laut. Bertha musste mit der Machete etwas Hartes getroffen haben. Eine Wand? Ich leuchtete mit dem wenigen Licht, das mein Handy bot, durch die Dornen: graue, dunkle Steinquader.
„Es ist hier.“
Meine Stimme bebte vor Erregung. „Wir müssen den Eingang finden.“
Wir bewegten uns nun an der Wand entlang, schabten und schlugen die knorrigen Äste vom Mauerwerk und tasteten jede Unebenheit ab, in der ständigen Erwartung, auf ein Fenster, eine Tür oder ein Loch zu stoßen.
„Hier ist etwas!“
Hinter den Dornen lag, kaum sichtbar, eine modrige Holztür mit einer rostigen Klinke. Bertha befreite die Tür vom Gewächs. Ich begann an der Klinke zu rütteln, zu ziehen und zu drücken.
„Nicht mit Gewalt.“ Bertha legte sanft ihre Hand auf meine und drückte die Klinke herunter. Die Tür ließ sich öffnen, schwerfällig und knarzend.
Drinnen herrschte dichtes Schwarz. Der Geruch von Fäulnis strömte uns entgegen. Nur das Handylicht warf einen blassen Lichtkegel vor unsere Füße.
„Wie viel Akku hast du noch?“
„Dreizehn Prozent“, las ich vom Display ab. „Wenn ich das Licht anlasse, vielleicht noch eine Stunde, vielleicht nur eine halbe.“
„Und die Kamera? Mach mal ein Foto mit Blitz, ich will sehen, was hier ist, wie groß der Raum ist.“
Ich holte die Kamera hervor. Für einen kurzen Augenblick war alles in gleißendes Licht getaucht. Ich war geblendet.
„Zeig das Foto!“, verlangte Bertha.
Pilze, Schimmel überwucherten, was vielleicht einmal Möbel gewesen waren. Weiter hinten im Raum ein Durchgang.
„Da müssen wir durch.“ Vorsichtig bahnten wir uns einen Weg durch den Raum, im engen Radius des Handylichts. Ich versuchte, den Pilzgeschwüren auszuweichen, doch Bertha zogen sie magisch an.
„Ich will eine Probe nehmen“, sagte sie und griff mit einem Plastikbeutel nach einem Pilz, der im schwachen Licht schleimig glänzte. Doch als sie den Pilz abzog, sah sie, dass sich darunter alter Stoff hob und senkte.
Vor Schreck hielten wir die Luft an und hörten – ganz leise – einen fremden Atem. Wir fuhren den riesigen Schleimpilz mit dem Licht ab. Er hatte sich um einen Körper geschlungen. Am Boden des Pilzes lugten zwei Füße hervor, die in altmodischen Schlappen steckten.
Die Gerüchte bewahrheiteten sich also. Damit hatte ich nicht gerechnet.
„Weiter!“, flüsterte Bertha schließlich und schob mich entschieden fort, ins nächste Zimmer. Auch dort waren überall riesige Pilze – und jetzt, da ich es wusste, hörte ich ganz leise von überall her Atemgeräusche …
Wir bewegten uns von Zimmer zu Zimmer. Bertha nahm Probe um Probe. Der Akkustand sank beständig. Zuletzt, als nur noch drei Prozent verblieben, fanden wir uns vor einer geschlossenen Tür wieder. Alter Lack blätterte ab.
Wir zogen die Tür auf. Vor uns wand sich eine steinerne Wendeltreppe in die Höhe. Wir stiegen empor. Unsere Schritte hallten. Als wir auf der obersten Stufe standen, waren wir in einem kleinen Raum angekommen. Mit Löchern in den Wänden, durch die Schlingpflanzen und Rosen in das Zimmer wuchsen.
Ein einsames Bett und ein Spinnrad standen dort.
(Adaption von »Dornröschen«)