Collage mit fünf Autor*innen zum Corona-Blog

Corona-Blog: Wiederaufnahme Herbst 2021

Porträt von Anna Lott
© Julia Windhoff

Anna Lott am 6. und 9. Dezember 2021

Anna Lott schreibt Bücher, Drehbücher und Hörfunkgeschichten und ist zunehmend für ihre lebendigen und humorvollen Lesungen bekannt. Ihre Bücher erscheinen in den Verlagen Arena, dtv junior, Carlsen und Thienemann-Esslinger. Sie lebt mit ihren zwei Söhnen in Bremen. 

www.annalott.com

 

 

1

In einer Bibliothek, irgendwo im Norden Deutschlands, ein Tag im November.

Ich stehe auf einem liebevoll gestalteten Podest. Ein Glas Tee, ein Fläschchen mit Wasser, ein unberührter Teller mit Keksen auf einem kleinen Tischchen neben mir. Ein Headset, dicht geschmiegt an meinen Kopf. An meinen Füßen goldene Schuhe. Wie der Huf des Esels der Bremer Stadtmusikanten am Bremer Rathaus, erzähle ich den Erst-, Zweit-, Dritt- oder Viertklässlern, die vor mir auf Stühlen oder Bänken sitzen. Der Huf ist abgenutzt, glänzt golden, weil ihn so viele berühren und sich etwas wünschen. Und dieser Wunsch geht dann in Erfüllung. Ich habe mir gewünscht, hier bei ihnen zu sein. Und schwuppsdiwupps bin ich hier. Wie ich mich freue! Ich sehe blitzende Augen über Masken. Finger schnellen in die Luft. Viele wissen etwas über Bremen. Einige auch nicht. Jetzt wissen sie innerhalb kürzester Zeit eine ganze Menge. Und ich weiß, wie lange man von hier im Auto bis nach Zagreb benötigt (14 Stunden).

Ein Buch in meiner Hand. Gespickt mit Pagemarkern und Büroklammern. Mein Buch. Der Titel ist mittels eines Beamers an die Wand projiziert.

Ein Junge liest flüssig vor, was dort steht:

„Lilo von Finsterburg. Party auf Burg Gipfelgrusel.“

„Yes, Bingo! Und da steht noch etwas. Schau mal, dort!“

Ich zeige auf zwei Wörter über dem Titel.

„Anna Lott“, ruft ein Mädchen.

„Genau. Das ist mein Name, weil ich mir die Geschichte ausgedacht und das Buch geschrieben habe.“

Spätestens jetzt wissen alle, warum ich bei ihnen bin.

Ich erzähle, lese einige Passagen, tue so, als würde ich mich über das, was dort steht, wundern, bin Figur. Mal das Mädchen Lilo, dann der Kater Fräulein Rüdiger. Ich flüstere – ängstlich, geheimnisvoll, kichernd. Ich singe – schief und laut und voller Inbrunst. Und das Publikum taucht ein in meine Welt, deren Tür ich öffne. Es lacht, lauscht, rät und stimmt ab, wie die Geschichte wohl weitergeht. Die, die Recht haben, jubeln, machen Siegerposen. Die anderen strengen sich an, damit sie beim nächsten Mal die Gewinner*innen sind. Ein Mädchen liest Buchstabe für Buchstabe das Wort GLIBBERSCHLEIM vor. Was für ein schwieriges Wort! Heute ist das Mädchen nicht „leseschwach“. Heute ist sie stark und mutig. Wir sind in Resonanz. Ich spüre die Freude, das Leben, den Sinn meiner Arbeit, meines Seins. Ich sehe fröhliche Kinder, lachende Lehrerinnen und Lehrer, Bibliothekarinnen. Das ist kein Traum. Das ist Realität in Zeiten von Corona.

„Macht Ihnen Ihre Arbeit Spaß?“

„Und wie! Wenn ich mir einen Job aussuchen würde, der mir keinen Spaß macht, wäre ich ja reichlich doof, oder?“

Die Kinder nicken. Einige Lehrer*innen schauen zur Seite oder ihr Blick geht nachdenklich nach innen. Ich tue so, als würde ich es nicht sehen.

„Wie alt sind Sie?“

„Uralt, ich komme aus dem letzten Jahrhundert.“

„Echt???? Haben Sie beide Weltkriege erlebt?“

Ich lache.

„Nee, so alt bin ich nun auch wieder nicht. Ich bin 46.“

„Waaaaaaaaaas? Sie sehen aus wie 20.“

„Danke!“

Ich lache und mache Faxen. Rate den Kids, ordentlich schreiben zu lernen. Für die Autogrammkarten später. Damit sie nicht so krickeln wie ich. Alle versprechen es mir. Die Lehrer*innen haben es gehört, ich sehe ihre hochgehaltenen Daumen.

Ich liebe meinen Job. Ich lebe ihn. Einige Male hätte ich seit Beginn der Pandemie fast aufgegeben. Zum Glück habe ich das Corona-Wellen-Surfen gelernt. Oder das Tauchen. Jedenfalls bin ich wieder aufgetaucht. Die Puste ist wieder da.


2

In meinem Büro, irgendwo in Bremen, ein Tag im November.

Das Verflixte an dieser Pandemie war für mich von Anfang an nicht nur der finanzielle Einbruch aufgrund ausgefallener Lesungen. Es gab für Künstlerinnen wie mich eine Menge finanzieller Zuschüsse. Zum Glück!

Nein, das Verflixte war und ist der fehlende Stempel der „Systemrelevanz“. Man mag meinen, ein solches Unwort, das sich irgendein*e Politiker*in oder wer auch immer ausgedacht hat, hat keinerlei Wirkung. Wer glaubt schon an Worte außerhalb der eigenen kreativen Blase? Wir sind selbst und bestimmt. Am besten beides zusammen.

Mutig und unerschrocken!

Worte haben Wirkung. Immer, wenn ich durchlässig für meine Umgebung bin, nehme ich diese Wirkung körperlich wahr. Es ist ein Schlüssel meiner kreativen Arbeit.

Bin ich durchlässig, dringen Worte von außen in mich ein. Dann drehen sie in meinem Körper ihre Runden, heizen mich auf, lassen mein Herz klopfen oder verursachen mir Gänsehaut. Manche rauschen auch einfach nur durch mich hindurch, schnell und rasant. Hin und wieder hinterlassen sie ein Gefühl von Schwindel und Verwirrung. Dann muss ich mich einige Male um mich selbst drehen, um zu kapieren, was da gerade geschehen ist. Um dann, nach dieser rasanten Karussellfahrt, wieder zur Ruhe, Einsicht oder Mehrsicht zu kommen.

Wenn sich allerdings Worte zusammentun – SYSTEMRELEVANZ! SYSTEMRELEVANZ! SYSTEMRELEVANZ! – und unisono, gleich einer Armee, auf mich zustürmen, so hauen sie mich mitunter um. Und dann fällst du hin und alle deine alten Wunden reißen auf. Auch die, von denen du dachtest, dass sie doch längst vernarbt sind. Und du blutest und weinst und wünscht dir plötzlich, dass deine Mutter bei dir ist. Und währenddessen schaust du verzweifelt dabei zu, wie dein Potential aus dir heraussickert. Dann packst du dich zunächst in Mullbinden. Und weil du plötzlich Angst hast, dass dich eine erneute Welle fortreißen könnte, baust du dir einen Bunker. Aber was du dort machen willst, außer zu stöhnen und zu meckern und abzuwarten, weißt du eigentlich auch nicht. Hier kann nichts rein und nichts raus.

Ich habe in dieser Zeit keine*n Künstler*in getroffen, dem oder der es nicht ähnlich ging. Wir haben uns unterstützt, indem wir unsere Bunker geöffnet haben und gemeinsam durch die Corona-Wellen gepaddelt sind. Indem wir uns gefragt haben, was es genau ist, was uns so lähmt, verwirrt, entmutigt. Das war wichtig. Ist es bis heute. Bei allen hat sich etwas verändert, irgendwie sind wir allesamt in gewisser Weise radikaler geworden. Der Eine ist linkspolitischer, die Andere tiefgründiger geworden, die Einen sehen, in welchem Hamsterrad sie jahrelang gearbeitet haben und legen eine Pause ein.

Und ich, ja, es ist absurd, ich bin in gewisser Weise radikal fröhlich geworden. Ich weiß plötzlich ganz genau, warum ich auf Mut, Hoffnung und Freude in meinen Geschichten setze.

„Das war der schönste Tag in meinem Leben“, sagt mir ein Mädchen nach einer Lesung. Meine Arbeit ist systemrelevant. Die Tragik dieser Zeit ist mir eine Lehrerin. Nicht nur im Wellensurfen.



Weitere Beiträge zum Corona-Blog (Herbst 2021)

Corona-Blog 2: Anke Bär

Anke Bär schreibt im Corona-Blog vom Bremer Literaturkontor über Entfremdung, Sprachlosigkeit und Weckrufe.

Corona-Blog 2: Meike Dannenberg

Meike Dannenberg schreibt im Corona-Blog vom Bremer Literaturkontor über Wendepunkte im Leben und über Ungerechtigkeiten, die durch Corona umso sichtbarer geworden sind.