Keine Ahnung, wo ich hier gelandet war, alles komplettes Neuland. Ich ging über den Fluss, über eine endlose Brücke, es schneite ein bisschen an diesem Vormittag, der Himmel war wie Metall. Ich war der einzige Mensch, der zu Fuß über diese Brücke ging, Schwerlaster dröhnten an mir vorbei. Ich dachte an nichts, bis plötzlich etwas anrauschte, wie aus der Steinzeit, in sattem Dunkelblau: ein BMW, V8-Motor, Baujahr um 1960, sanft glitt er an mir vorbei. Das weckte mich auf.
„Noch vier Jahre“, sagte ich in den Wind, „vier lange Jahre, dann bin ich dran, lasst mir noch eins übrig von all den edlen Dinosauriern, ich will auch so was.“
Der Fluss unter mir war breit, sehr breit. Ich hatte ihn sofort gemocht, was man von der Stadt ansonsten nicht behaupten konnte. Vor einem Jahr waren wir hergezogen, wegen Papas Arbeit.
Es dauerte eine Viertelstunde, dann hatte ich die Brücke hinter mir. Ohne Plan ging ich durch irgendwelche Straßen, überall wohnte jemand, sogar in diesen kleinen, lausigen Häuschen, die aussahen wie Hundehütten. Aber immer noch besser als bei uns.
Dann kam ich in dieses Viertel: Ein Café nach dem andern, Restaurants, Dönerbuden, Kneipen.
Schicke Läden. Leute, die ihre Kinder in Lasten-E-Bikes durch die Gegend kutschierten. Ich ging so vor mich hin. Da sah ich Papa. Er stand vor einem italienischen Café, wo ein paar Leute draußen saßen, unter Heizstrahlern. Sofort versteckte ich mich hinter einer Litfaßsäule, immerhin war Montag, da saß einer wie ich normalerweise in der Schule und hatte Chemie.
Papa hatte seine Arbeitsklamotten an: leuchtendes Orange. So hatte ich ihn das letzte Mal gesehen, als ich acht oder neun war, als Mama noch bei uns wohnte, vor dem Knall. Papa schob einen Karren vor sich her, blieb stehen, nahm einen Besen und fing an. Er fegte auf:
Papiertaschentücher, Zigarettenkippen, Glasscherben, Kaffeebecher, Corona-Masken, den Staub der Straße. Als er einen Haufen zusammen hatte, fegte er den Müll auf eine breite Schaufel. Er ging damit zu seinem Karren und warf den Müll in einen Sack. Die Leute vor dem Café schauten ihm dabei zu.
In diesem Moment kam ein Mann aus einer Eck-Kneipe. Er zündete sich eine Zigarette an, knüllte die leere Packung zusammen und ließ sie fallen, direkt vor Papas Füße. Papa sah ihn an, ohne eine Regung.
„Ja, was?“, sagte der Mann. „Mach deine Arbeit.“
„Vollidiot!“, rief eine Frau ihm zu. Sie saß vor dem Café, hatte eine helle Felljacke an und auf dem Kopf eine dicke Fellmütze. Der Mann guckte sie blöd an und ging runter zur U-Bahn. Papa bückte sich, las die Packung auf und warf sie in den Sack. Dann ging er weiter.
Will Gmehling, 1957 in Bremen geboren, hat lange Zeit Bilder für Erwachsene gemalt, bis er anfing, Bücher für Kinder zu schreiben. 1998 erschien sein erstes Kinderbuch „Tiertaxi Wolf & Co.“ (Verlag Sauerländer). Es folgten viele Bilder- und Kinderbücher, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Der Kinderroman „Freibad. Ein ganzer Sommer unter dem Himmel " (Peter Hammer Verlag 2019) wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Das Buch ist der erste Band einer erfolgreichen Reihe um die fiktive Familie Bukowski. Zuletzt ist von ihm das Kinderbuch „Molly Blume“ (mit Illustrationen von Anna Schilling) im Peter Hammer Verlag erschienen. Will Gmehling lebt und arbeitet in Bremen und Köln und ist bereits 1997 das erste Mal mit dem Bremer Autorenstipendium ausgezeichnet worden.
Begründung der Jury
Projektstipendium
In seinem Jugendromanprojekt „Mondfluss“ erzählt Will Gmehling mit viel Feingefühl und Empathie vom 14-jährige Stefan Dönnerschlach, den alle nur Stuxx nennen. Stuxx lebt mit seinem alleinerziehenden Vater, einem sich abrackernden Straßenreiniger, und seiner 4-jährigen Schwester Lila in einer anonymen Siedlung in einer deutschen Großstadt in prekären Verhältnissen, die Gmehling mit einer präzisen Sprache sehr subtil und glaubwürdig schildert. Dabei gelingt es ihm immer wieder im tristen Alltag das Besondere zu entdecken und zugleich en passant ganz unaufdringlich große Themen wie Armut und Einsamkeit zu behandeln. Besonders gefallen hat der Jury dabei, dass Gmehling trotz der jugendlichen Perspektive eine Sprache gefunden hat, die ohne anbiedernden Jugendslang auskommt, sondern in einer zwar einfachen, aber zugleich poetischen und zeitlosen Art und Weise von der Gegenwart eines 14-Jährigen erzählt.
Zur Jury 2024 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Annette Freudling (Freie Autorin/Journalistin & Vorstand Bremer Literaturkontor), Axel Stiehler (Geschäftsleitung Buchhandlung Logbuch & Blaukontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Mitarbeiterin virt. Literaturhaus), Jörg Isermeyer (Freier Autor & Stipendiat 2022) und Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).