Lindenblütenstaubtage in Berlin
ein poetischer Reisebericht
von Donka Dimova (Juni 2024)
Tage
Im Juni war es und ich habe mir genau 14 Tage freiräumen können, um in Berlin zu schreiben, zu lesen, zu hören und zu sein. Rückblickend hatte ich ganz schön viel vor. Aber das merkte ich erst später.
Im Zug fuhr ich mit einem Roman von Ulrike Draesner und ich war schon in einem kleinen Wörterrausch, machte mir Notizen, suchte nach Themen und schwankte zwischen Philosophie und Poesie. Als wenige Tage später die Autorin bei einer Veranstaltung im Haus für Poesie neben mir saß, war ich doch sprachlos und konnte ihr nichts von meinen Zuggedanken erzählen.
Aus dem Zug ausgestiegen traf ich am futuristischen Ameisenhaufen – Berlin Hauptbahnhof – die Bremer Autorin Frauke Schumacher. Sie war die Nachwuchsstipendiatin im Jahr vor mir und hatte genauso viele Zweifel an ihrem Buchprojekt wie ich, denn sie hatte noch keinen Verlag. So teilten wir beide die Berliner Mittagssonne, ermutigende Worte und das Versprechen weiter zu machen.
Also spazierte ich voller Motivation durch den Tiergarten zur Bremer Landesvertretung, denn es konnte kein Zufall sein, dass ich direkt in den ersten Berliner Minuten eine Bremerin getroffen hatte. Und dann kam es noch besser – ich setzte mich irgendwann auf eine Grünfläche und wollte wieder mal Gedanken festhalten, als direkt vor mir ein vierblättriges Kleeblatt wuchs. Also existiert das Glück doch! Ich steckte den Glücksbringer zum Trocknen in mein Heft und legte das Thema meines neuen Textes fest – der Kiosk. Seit ich das Stipendium bekam, schreibe ich das Mehrfamilienhaus ohne Aussicht. Es sind poetische Erzählungen über neu ankommende Bulgar:innen in Gröpelingen. In einigen Texten wird der Kiosk gegenüber angedeutet. Ein Ort der Begegnung und des Austausches, an dem sich einige Schicksale kreuzen und einige Bedarfe gedeckt werden – vor allem aber der Bedarf an Vertrautheit in der Fremde. Und genau das spürte ich an diesem ersten Tag – ich muss mich an etwas Vertrautem festhalten, denn die Welt ist groß und so ein neu ankommender Mensch doch ziemlich verloren.
Als wäre dies ein Puzzlehaus
zerstückelt und zusammengeklebt
vom vielen Kommen und Gehen,
vom Kurz-Verweilen und Lang-Ausharren.
Rastlosigkeit geschmiert an der Fassade
zerrissene Plakate, Anzeigen
für Gesucht und Nicht-Gefunden
und blinkende Leuchttafel eines Kiosks
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Die Landesvertretung war ein sicherer Anker, denn dort hatte ich bereits eine Lesung vor einigen Monaten und ich wusste, was mich erwartete – ein nettes möbliertes Zimmer mit bequemem großen Bett, eine kleine Küchennische, geräumiges Bad. Was ich allerdings neu entdeckte, waren die Lobby unter dem Dach und die zwei Dachterrassen, auf denen ich einige sehr innige Stunden verbringen sollte. Danke für den Tipp an Leyla Bektaş, die vor mir dort gewohnt hat.
Und so fingen meine Tage an – voller Zuversicht, mit einem Glücksbringer und einem Schreibthema.
Und es waren so schöne Tage, an denen ich ohne Wecker aufwachte, lange Spaziergänge durch breite Straßen machte, leckeren Kaffee in verschiedenen Stadtteilen trank, stundenlang Bahn und Bus fuhr, Museen besuchte, mir stets Notizen machte und Zauber entdeckte, denn alles war neu und frisch und spannend. Die Tage waren überzogen mit einem Schimmer aus Freiheit und Fragen. Was werden sie mir bringen?
Staub
Feenstaub tröpfelte von der Decke der Volksbühne, als ich an einem Abend mit der Poetry Slammerin Eva Matz verabredet war. Auch eine Bremerin, die in Berlin einen Auftritt hatte. Sie nahm mich in den Back Stage-Bereich und zur Aftershow-Party mit und schrieb mit mir in den folgenden Tagen Gedichte im Tiergarten. Schon wieder habe ich mich an dem Vertrauten festgehalten – an Menschen und Texten. Genauso wie meine poetischen Figuren, die im bulgarischen Kiosk, der eigentlich ein kleiner prall gefüllter Supermarkt ist, Brot, Salami, Käse, Oliven, Tomaten, Shampoo und Waschmittel aus Bulgarien kaufen. Und Süßes – eine ganze Regalwand voll nur mit Schokoriegeln, Keksen, Schokolade und Erinnerungen…
geschichtet meine Wünsche
noch bunter und noch süßer liegen aus
die Sehnsucht neben der Sünde
und ich, die Junge, trete wieder ein
mit vollen Augen und mit leeren Taschen
in jener Zeit als Schuhe zwickten, Finger juckten
und ich die Kleider eines Kindes trug
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Mit Glitzerstaub waren die Veranstaltungen der Berliner Woche für Lyri/cs/k/x und Spoken Word bedeckt. Das Festival für junge Lyrik im Haus für Poesie, das zu der Zeit lief und ich super gerne besucht habe. Eigentlich wollte ich zum Poesie Festival für „erwachsene“ Lyrik, aber das wurde ausgerechnet in diesem Jahr um einen Monat verlegt, weil die Fußball-Europameisterschaft zur selben Zeit in Deutschland lief. Was für ein Pech! Dieses Event hat mir einige Wege versperrt. Auch im Tiergarten bei meinen Joggingrunden musste ich ganz schön große Umwege machen, denn Zäune trennten die Fans von den Nicht-Fans. Aber das nur am Rande erzählt. Das junge Festival war sehr beeindruckend und ich bedauere es keine Sekunde, dort gelandet zu sein. Ich habe so gute Texte gehört und so mutige junge Menschen kennen gelernt. Mit der Referentin für poetische Bildung im Haus für Poesie sprach ich noch lange nach den Lesungen über vorhandene und fehlende Angebote für junge Schreibende, wir tauschten Bücher aus und wünschten uns, dass die neuen Generationen mit mehr Poesie aufwachsen.
Mit einer Prise Sternenstaub unter dem freien Himmel habe ich mir einige poetische Filme z.B. über Thomas Brasch, Hilde Domin und Friederike Mayröcker angeschaut. Organisiert ebenfalls vom Haus für Poesie und voll mit der Liebe und dem Leid dieser großen Dichter*innen. In den darauf folgenden Tagen haben sie mich auf meinen Spaziergängen begleitet und sie waren guter Lehrer*innen im Nicht-Aufgeben.
Und so ging ich ganz beglückt durch den Büchermarkt auf dem Bebel-Platz, also mitten im touristischen Zentrum Berlins. Ich stöberte, blätterte, schnupperte, sprach mit Verleger*innen, lauschte einigen spannenden Gesprächen an den Ständen und zwei, drei Lesungen, kaufte eine Tasche voller Bücher, die ich dringend lesen wollte, und fragte mich weiterhin – was bringt das alles?
Blüten
Aber wo man sät und pflegt, wird auch etwas wachsen und vielleicht irgendwann blühen, oder? Daran hält sich doch meine Zuversicht fest. Und ich hatte tatsächlich viele herzlich gute Gespräche. Zum Beispiel mit der ukrainischen Dichterin Ija Kiva, die beim Büchermarkt gelesen hat. Was für eine faszinierende Person, die in ihrer Zärtlichkeit und Zerbrechlichkeit so viel Stärke verbirgt. Und in diesem Gespräch zwinkerte mir wieder ein Zufall zu, der schwer zu glauben war. Ija Kiva hatte Anfang des Jahres einen Poesieband auf Bulgarisch herausgebracht und ihre Verlegerin ist aus Burgas, also aus meiner Heimatstadt und ich kenne sie. Bitter mussten Ija und ich feststellen, dass Bulgarien ein interessantes, aber immer noch so armes Land ist. Ija sollte bei einem Poesiefestival in Burgas lesen, aber es gab nicht genug Geld für Fahrt und Übernachtung der Dichterin, also wurde sie kurzerhand wieder ausgeladen. Verständnis haben wir beide, aber auch einen bitteren Beigeschmack und die ewige Frage – für wen schreiben und übersetzen wir eigentlich?
Eine der deutschen Übersetzerinnen von Ija Kiva ist Ulrike Almut Sandig, die eine meiner Lieblingspoetinnen der Gegenwart ist. Ihre poetisch-musikalischen Performances haben mich schon immer begeistert und auch wenn sie nur einen Text liest, hat sie eine Melodie in ihrer Stimme, die mich verzaubert. Wenige Tage später hatte ich die Freude, Ulrike mit ihrem Chor Amaryllis zu hören. An diesem Sonntagnachmittag hat sie zusammen mit der neuseeländischen Dichterin Hinemoana Baker in der Aula einer Schule gelesen und gesungen. Und ich sage euch, der Raum war voller Licht, das nicht nur durch die Fenster drang, sondern aus den Menschen heraus strahlte. Zauber, Zauber, Zauber. Also blüht die Welt doch mit den Stimmen der Poesie auf, habe ich gedacht.
Für einen Kaffee mit mir hatte Ulrike Almut Sandig auch Zeit und wir sprachen über Übersetzungen, neue Themen unserer Gedichte und die Angst vor dem Rechtsruck auf die Freiheit der Kunst. Denn in Berlin war es bereits im Juni 2024 spürbar, dass nicht jede Aussage willkommen ist und manche Künstler*innen besser nicht alles lesen sollen, was ihnen am Herzen liegt.
An dem Abend nach diesem Gespräch habe ich wieder etwas Geborgenheit in der großen Welt gebraucht, rief bei Sevda1 an und fragte sie, was sie macht, wenn sie traurig ist. Und die Antwort überraschte mich nicht, denn Sevda backt Brot. Das ist ihre Gabe und das gibt ihr die Kraft. Sie diktierte mir ganz genau das Rezept für ihr Brot und ich müsse es unbedingt sofort backen, damit es mir besser ginge, denn ein Stück warmes Brot heilt alles. Ich schrieb fleißig auf und sagte ihr nicht, dass in der kleinen Küchennische in der Landesvertretung gar kein Backofen steht. Also buk ich in Gedanken.
Oma hat immer gebacken
von ihr weiß ich abzuwiegen mit Hand und Herz
und alles durchzusieben durch Zeit und Fließ
von ihr weiß ich, wenn keine Milch da ist
mit Tränen und Spucke den Teig weich kneten
denn Erde und Feuer nähren uns alle
und ruhen, lang ruhen müssen alle guten Dinge
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1) Name geändert. Sie ist eine poetische Figur aus dem Mehrfamilienhaus
Linden
Viele gute Dinge sind mir in Berlin passiert. Am letzten Tag kamen drei Bremer Wortkünstler*innen, eingeladen von Christel Fangmann, in die Landesvertretung und wir lasen zusammen unsere Texte über Mut, Angst und das, was uns rettet. Es war ein wunderschöner Abschluss meiner Residenz und ich war sehr dankbar, dass meine Reise vertraut begann und endete. Denn das Vertraute brauchen wir alle, so wie ich im Juni immer Linden brauche.
Linden sind die Bäume meiner Kindheit, denn sie wuchsen direkt vor unserer Haustür in Burgas. Und einer davon war unser Lindenbaum, von dem wir jeden Juni immer die Blüten pflückten und trockneten, damit wir im Winter Tee daraus kochen konnten. Der heilt Husten, Halsschmerzen und Sehnsucht. Genau so bringt die Oma von Zoya2, die jeden Winter mit dem Bus nach Deutschland kommt, um den Winter bei den Kindern zu verbringen, Tee und Gewürze mit, damit sie ihr Heimweh heilen kann.
Oma ist ein Zugvogel - der Strömung entgegen, flieht in den Norden.
Jeden Winter kommt sie und schläft in der Küche, das Sofa ihr warmes Nest.
Sie bringt den Sommer mit sich - Lindenblüten getrocknet zum Tee,
Bohnenkraut, Paprikaschoten und Bärlauchsalz. Viel besser als das hier!
Kräuselminze, mit Wurzeln, in Zeitungspapier umhüllt, pflanzt sie
in einen alten Joghurtbecher und spricht mit ihr jeden Tag.
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In Berlin wachsen so viele Linden, aber ich konnte meine nicht finden. So vertraut mit der Welt und doch so verloren kam ich mir vor – zwischen Kindheit und Zukunft. Überall roch es nach Linden, im Park, im Café, unter der Brücke, in der U-Bahn. Sogar hinter dem dicken Zaun des Bundeswehrhauses roch es nach Linden und nach Kindheit. Es roch so unerträglich nach dem Schnellvergehenden, nach dem Flüchtigen, nach dem Klebrigen, was auf dem Boden der Erinnerungen bleibt und trüb ist, ein Satz aus unerträglich vielen kleinen Blüten, die mich schrumpfen lassen, die mich krank machen und heilen.
Lindenblütenstaub in einer Locke, auf der Schulter, in der Jackentasche. Unerträglich viel davon bleibt im Hals stecken, wie ungebackenes Brot und ungeschriebene Texte. Denn meinen Kiosk-Text habe ich in Berlin nicht schreiben können.
2) ebenfalls eine Figur aus dem Mehrfamilienhaus mit geändertem Namen.
Donka Dimova ist 1986 in Burgas, Bulgarien geboren. Die Poesie begeistert und beschäftigt sie seit ihrem frühen Schulalter. Sie veröffentlichte in Sammelbändern, Zeitschriften und Anthologien. Sie studierte Politikwissenschaft und Europäische Studien in Bremen und Hannover. Im Jahr 2014 kam ihr erster selbstständiger Poesieband Übersetzung des Alltags heraus. Seit 2016 leitet und begleitet Donka Dimova künstlerisch-pädagogische Projekte für Kinder und Jugendliche nach dem eigenen Konzept Spiele mit Sprache. Sie übersetzt Poesie auf Deutsch und Bulgarisch. Die Autorin erhielt 2022 das Nachwuchsstipendium des Bremer Autor*innenStipendiums.