Jörg Isermeyer – Auszug aus dem Kinderbuchprojekt ›Faust & Pfote‹

– Die Wette –
Herr Gotthold saß in seinem Büro und trommelte mit den Fingern auf der Platte seines Schreibtisches – ein untrügliches Zeichen dafür, dass er kurz vorm Explodieren war. Und er explodierte häufig, als Intendant konnte er sich das leisten. Er war sogar der Meinung, dass seine Vulkanausbrüche notwendig waren, sozusagen eine Dienstpflicht. Immerhin war er verantwortlich für alles, was mit diesem Theater zusammenhing! Und wenn er seine Untergebenen nicht gehörig auf Trab brachte, würde der ganze Laden den Bach hinuntergehen, da war er sich sicher. Nur mit starker Hand konnte man so einen Betrieb leiten. Außerdem verstanden alle um ihn herum höchstens halb so viel vom Theater wie er! Weswegen sollte man ihn sonst zum Intendanten ernannt haben?!
Jetzt versuchte er allerdings, seine Lavaströme unter Kontrolle zu halten. Gerade saß ihm nämlich kein Untergebener gegenüber, sondern Herr Höll, der Chefkritiker der örtlichen Zeitung. Und der hatte die Unverschämtheit zu meinen, mindestens genauso viel vom Theater zu verstehen wie ein Intendant.
„Ich gebe ihnen dieses Interview nur, weil ich auf die Presse angewiesen bin,“ knurrte Herr Gotthold und unterstrich seine Aussage mit einem weiteren Fingertrommelwirbel. „Und nicht, weil ich mir Ihre Meinung anhören will.“
Sein Gegenüber lehnte sich entspannt zurück und betrachtete den Intendanten amüsiert. „Das ist mir klar,“ sagte Herr Höll, steckte Stift und Notizblock in seine Jackettasche und faltete die Hände vor seinem ansehnlichen Bauch. „Aber zu einem Interview gehört auch ein Interviewer. Und nach meiner Auffassung vom Journalismus sollte das ein Mensch mit einer eigenen Meinung sein.“
„Mich interessiert auch ihre Meinung zum Journalismus nicht.“
Herr Höll lachte laut auf. „Für jemanden, der auf eine gute Kritik aus ist, gehen sie aber mächtig unklug vor,“ sagt er.
Herr Gottholds Finger standen plötzlich stramm. Auch alles andere an ihm erstarrte. Mit seinen leicht ergrauten Haaren, den markanten Gesichtszügen und dem in einem tadellosen Anzug steckendem untersetzten Körper sah er jetzt aus wie ein Mafioso beim Pokern. Oder wie ein alter Panther kurz vor dem Sprung.
„Was wollen sie damit sagen?“ fauchte er.
„Wenn ich nicht sowieso davon ausginge, dass ihre Faust-Inszenierung bei mir gähnende Langeweile hervorrufen wird,“ fuhr Herr Höll unbeeindruckt fort, „könnte ich sie allein aus Rache für Ihre Unhöflichkeiten verreißen.“
„Ha! Jetzt geben Sie es zu!“ Herr Gotthold sprang auf. Zum Glück stand der Schreibtisch zwischen ihnen, so dass er sich nicht ungehindert auf den Kritiker werfen konnte, um ihn zu zerfleischen. So stützte er sich lediglich energisch auf das Hindernis. „Sie verreißen meine Inszenierungen aus Prinzip!“, stellte er triumphierend fest.
„Ich verreiße sie nur, wenn sie schlecht sind,“ entgegnete Herr Höll sachlich.
„Aber sie haben bisher jede meiner Inszenierungen verrissen!“
„Weil alle schlecht waren.“

Porträt von Jörg Isermeyer
© privat

Jörg Isermeyer, geboren 1968 in Bad Segeberg, reiste als Straßenmusiker quer durch Europa. Nach seinem Studium zog er die freie Künstlerlaufbahn einer Universitäts-Karriere vor und lebt heute als Schauspieler, Regisseur, Theaterpädagoge, Musiker und Schriftsteller in Bremen. Sein Stück Ohne Moos nix los, das im GRIPS-Theater uraufgeführt wurde, erhielt den Berliner Kindertheaterpreis und wurde für den Mühlheimer KinderStückePreis nominiert. Seine Romane Alles andere als normal, Die Brüllbande und Ene, mene, Eierkuchen wurden u.a. mit dem Leipziger Lesekompass ausgezeichnet. Das Buch Lyrik-Comics, zu dem Jörg Isermeyer Gedicht-Vertonungen beigesteuert hat, war für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2020 nominiert.

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Begründung der Jury

Projektstipendium

In Isermeyers Kinderbuch-Projekt „Faust & Pfote“ wird ein Stadttheater zum Schauplatz von Streichen, Wutanfällen und Machtkämpfen, aber auch von Solidarität und Engagement. Mit viel Drive, Charme und Witz erzählt der erfahrene Kinder- und Jugendbuchautor, Regisseur, Musiker und Theaterpädagoge Jörg Isermeyer von egomanischen Intendanten, herzlichen Maskenbildnern, theaterliebenden Ratten und obdachlosen Katzen. Dabei gelingt es ihm zum einen, jungen Leser*innen einen sehr plastischen Einblick in den Theaterbetrieb zu geben, und zum anderen, mit großer Leichtigkeit und ungemein humorvoll den Kulturbetrieb kritisch zu beleuchten.

Ganz beiläufig und ohne erhobenen Zeigefinger verhandelt Isermeyer auf gewitzte Weise die Machtstrukturen und das Gefälle im Theaterbetrieb, aber auch Fragen von Widerstand und Gemeinsinn. Dabei bringt er Menschen und Tiere als gleichberechtigte Akteure auf gekonnte Weise zusammen, spielt und bricht mit Klischees und weiß auch sprachlich und im Ton vollauf zu überzeugen.
Mit einer ordentlichen Portion Ironie und einer zarten Prise Slapstick entwickelt sich dabei eine fein komponierte und rundum stimmige Geschichte, die nicht nur Kinder, sondern genauso die Erwachsenen packen dürfte. Daher stand für die Jury außer Frage, dass „Faust & Pfote“ in diesem Jahr unter allen eingereichten Bewerbungen am meisten zu überzeugen wusste. Einstimmig entschied sich die Jury für dieses anspruchsvolle und lehrreiche, aber nicht pädagogisch, sondern locker leicht daherkommende Kinderbuchprojekt. Damit zeichnet sie auch das Projekt eines umtriebigen Schriftstellers aus, der bereits für einige andere Kinder- und Jugendbücher prämiert worden ist. In diesem Sinne hofft und freut sich die Jury auf das fertige Buch und gratuliert Jörg Isermeyer ganz herzlich.

Zur Jury 2022 gehörten Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Annette Freudling (Freie Autorin/Journalistin & Vorstand Bremer Literaturkontor), Sven Odens (Geschäftsführer Buchhandlung Buntentor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Mitarbeiterin virt. Literaturhaus) und Leyla Bektaş (Freie Autorin & Stipendiatin 2020).