Corinna Gerhards am 22. und 25. November 2021
Corinna Gerhards (*1977): Gelernte Tischlerin, später Studium der Germanistik und Kulturwissenschaften. Heute arbeitet die alleinerziehende Mutter als freie Schriftstellerin, ausgebildete Drehbuchautorin, Jugendbuch-Gutachterin, Journalistin und Dozentin für Kreatives Schreiben.
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WEG
Ich will weg, irgendwohin wo nicht hier ist, nicht, dass ich wüsste wohin genau, aber eineinhalb Jahre das eigene Wohnzimmer angucken, ist ganz schön langweilig. Viele Menschen in meiner Umgebung haben die Herbstferien genutzt, um endlich mal wieder „richtig weg“ zu fahren, das habe ich irgendwie verpasst oder ich hatte einfach nur Schiss.
Vielleicht hätte ich auch gar nicht wegfahren wollen, wenn ich es die ganze Zeit gekonnt hätte, das kann man jetzt rückblickend schwer sagen, natürlich will man genau das, was man nicht kann, das Gehirn funktioniert da ein bisschen seltsam.
Ich google Seychellen und Thailand und dann doch Mallorca, weil mir mein Kontostand wieder einfällt. Ich verbringe Stunden bei der Auswahl des besten Hotels, dass ich nicht buchen werde und übe mit dem Finger auf dem Globus das Verreisen.
Ich habe in meinem Leben schon viele verschiedene Versionen von weg probiert. Erst zwei Straßen weiter, dann in einen anderen Stadtteil, das Umland, die nächste große Stadt, das andere Ende des Landes. Weg beginnt erst, wenn sich die Luft um einen spürbar ändert, wenn die Gerüche einem fremd werden, man sich fehl am Platz fühlt zwischen all den Einheimischen. Aber das Gefühl hält vielleicht zwei Tage an, maximal drei, dann kennt man die Gerüche und die Haut hat sich an die Luft gewöhnt und ich mich an die Menschen oder anders herum. Dann kaufe ich mir ein T-Shirt oder ein paar Postkarten, die ich vergesse abzuschicken, aber mit denen ich mir später beweisen kann, dass ich wirklich da war.
Ich habe sogar versucht, so weit weg zu sein, mich so sehr an das Weg zu gewöhnen, dass mir beim Zurückkommen, das Hier wie Weg vorkommt. Aber das habe ich nie geschafft.
Vielleicht wird es Zeit zu akzeptieren, dass das WEG immer nur da sein kann, wo ich nicht bin.
Ich weiß, wir „dürften“ wieder (zumindest für den Moment), aber ich weiß auch, dass es damit eigentlich gar nichts zu tun hat, weil das, wovor ich weg will, so viel weiter geht als Regen und ungesaugte Schlafzimmer.
Also bleibe ich wohl hier.
Meine Wohnung ist hübsch.
Und warm.
Und ich weiß, wo ich was zu essen finde.
Alles Variablen, deren man sich beim Wegsein nicht sicher sein kann.
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ZWISCHEN DEN STÜHLEN
Gestern war ich im Kino. Volle Auslastung, voll besetzt, 3G wurde nicht kontrolliert und die Masken hätten wir auch nicht aufsetzen müssen, taten aber trotzdem alle, der Mensch ist ein Gewohnheits-Tier. Hinterher ging es in die semi-volle Kneipe, immerhin wurde ein kurzer Blick auf den Impfpass geworfen, die Gespräche gingen darum, wie viel Tage oder Wochen wir wohl noch bis zum nächsten Lockdown hätten, während man sich eng aneinander gedrängt zuprostete.
Ich bin aufgeschmissen, zerrissen, zwischen den Stühlen.
Gestern hatten wir die bis dato höchste Inzidenz in Deutschland seit Ausbruch der Pandemie, ist aber eh schon wieder überholt, die von heute war höher, bis dieser Artikel veröffentlicht wird, erscheinen uns wohl auch jene Rekord-Zahlen schon fast lachhaft.
Twitter ist voll von den Berichten erschöpfter Intensiv-Mediziner, Köln ist voll mit feiernden Jecken.
Gestern sind knapp hundert Leute in Deutschland an dem Virus gestorben. Etwa so viele, wie in den voll besetzten Kinosaal passen.
Ich bin aufgeschmissen, zerrissen, zwischen den Stühlen.
Ich denke kurz darüber nach, ob wir wirklich mit fünf Leuten in meinem Wohnzimmer sitzen sollten und sitze am nächsten Tag im vollbesetzten Theater-Saal. Mit schlechtem Gewissen, wenn ich zulasse darüber nach zu denken, aber ich tue es trotzdem, weil ich es kann, weil ich das Gefühl habe, ich habe es verdient, ich habe so lange gewartet, so lange keine Live-Kultur gesehen, ich habe so viel aufzuholen und natürlich weiß ich, dass es all den viel beschimpften Karnevalisten genauso geht und finde sie trotzdem scheiße.
Ich bin aufgeschmissen, zerrissen, zwischen den Stühlen.
Ich wünsche mir eine 0-Covid-Strategie, um endlich aus diesem Mist raus zu kommen, aber ich will weiter ins Kino und ins Theater gehen. Ich wünschte mir, die Leute wären vorsichtiger und bin selber in vielen kleinen Punkten so viel verantwortungsloser als vor einem Jahr. Ich habe diese Masken so satt und funkel jeden böse an, der es wagt sie kurz unter die Nase zu ziehen. Ich will endlich wieder Normalität und denke gleichzeitig darüber nach, dem Kino einen bösen Brief zu schreiben, weil ich es nicht gut finde, dass sie die 3G nicht mehr kontrollieren.
Ich bin aufgeschmissen, zerrissen, zwischen den Stühlen.
Eigentlich möchte ich mich einfach wie ein trotziges Kind auf den Boden werfen, mit den Fäusten und Füßen trommeln und schreien – es soll alles aufhören und zwar jetzt!
Oder ich mache Winterschlaf. Ich lege mich in mein Bett, mache die Augen zu, schütze mich und andere damit, lasse alle, die noch Kraft haben, ihre Kämpfe alleine ausfechten, muss keine Entscheidungen mehr treffen und wenn ich meine Augen wieder aufmache, ist alles vorbei.
Man wird ja noch träumen dürfen.