Seminar im Bereich Kreatives Schreiben an der Uni Bremen - mit Angelika Sinn
„Literarische Figuren“ – Wintersemester 2018 / 2019, Dozentin: Angelika Sinn
Schreibaufgabe „Spiegelbilder“
1. Teil
Die von Ihnen erfundene Figur betrachtet sich im Spiegel. Unterschiedliche Settings sind möglich. Versetzen Sie sich in ihre Protagonistin / Ihren Protagonisten, nehmen sie deren / dessen Perspektive ein. Schreiben Sie dann einen Text in der Ich-Form, in den die Beobachtungen, Gedanken und Empfindungen der Figur einfließen. Es entsteht ein innerer Monolog.
2. Teil
Nehmen Sie die gleiche Szene wie im ersten Teil der Aufgabe zur Grundlage. Die Figur betrachtet sich im Spiegel. Die Autorin / der Autor betrachtet die Figur dabei, wie sie sich im Spiegel betrachtet. Die Autorin / der Autor weiß nicht, was die Figur denkt oder fühlt, beobachtet sie lediglich wie durch eine Kamera (filmischer Blick). Nur durch die Aktionen, durch Mimik und Gestik der Figur erfahren wir etwas über ihre Gedanken und Empfindungen.
Ein interessantes langweiliges Mädchen
Ich blicke kritisch in den Spiegel, betrachte mein Gesicht, versuche zu lächeln. Es ist der Morgen des ersten Schultages nach den Sommerferien, und ich habe weder Lust noch bin ich bereit, mich dem Alltagsstress wieder zu stellen. Der einzige Lichtblick ist, dass ich nicht so müde aussehe, wie ich mich fühle. Mit den Gedanken an Leistungsdruck und die neugierigen Fragen der Lehrer, die genau wissen wollen, wie man die Ferien verbracht hat, ist das nur ein schwacher Trost. Seufzend fahre ich mir durch die Haare, bis sie mir unordentlich um den Kopf fallen. So sehe ich bedeutend weniger langweilig aus, als ich eigentlich bin. Mehr Schein als Sein, so war ich schon immer. Ein letzter Blick in den Spiegel: Ich schneide mir eine Grimasse, eine letzte Rebellion gegen die Maske, die ich mir selbst aufzwinge und die mich durch meinen Alltag trägt. In meinem Kopf wiederholt sich das Mantra: Ich bin ganz normal. Mein Spiegelbild blickt zurück und weiß, dass ich lüge.
Sie ist ein lebender Gegensatz. Zu Beginn, als mein Blick auf sie fällt, während sie sich im Spiegel betrachtet, wirkt sie langweilig. Durchschnittlich. Braune Haare, braune Augen, nicht zu dick oder zu dünn, nicht außergewöhnlich hübsch oder hässlich. Auf den zweiten Blick entpuppt sich die Annahme, sie wäre ganz normal, als Irrtum, denn ihre Mimik ist es, die verhindert, dass ich weggucken kann. Offensichtlich weiß sie nicht, dass sie beobachtet wird. Ihre Stirn ist gerunzelt und doch liegt ein Lächeln auf ihren Lippen. Wie, als müsste sie sich darauf konzentrieren, einen freundlichen Gesichtsausdruck zu zeigen. Im nächsten Moment verschwinden die Stirnfalten ebenso wie das Lächeln, und sie streckt sich selbst die Zunge heraus, beginnt zu schielen, zieht die Nase kraus. Mit den Händen fährt sie sich durch die Haare, bis sie ihr wild und ungezähmt ins Gesicht fallen. Dann glättet sich ihre Miene wieder, sie seufzt und wendet endlich den Blick von ihrem Spiegelbild ab. Auch ich schaue weg und kann doch nicht vergessen, was für ein interessantes langweiliges Mädchen mir begegnet ist.
Im Neonlicht
Ich wache auf, mein Hirn wummert mit voller Kraft gegen die Innenseite meines Schädels.
Mordskater. Ich brauche ein Glas Wasser. Langsam und mit nur halb geöffneten Augen taste ich mich durch meine Wohnung bis ins Badezimmer. Ich knipse das Licht an, und auf einmal zucken abertausende Blitze durch mein Blickfeld. Meine Augen haben sich immer noch nicht vollkommen an das Neonlicht gewöhnt, als ich mir selbst im Spiegel entgegenblicke. Ekelhaft. Ich habe mich gestern Nacht weder abgeschminkt noch ein frisches T‑Shirt angezogen. Ich sehe aus wie die schlechteste Version von mir: Die Augenringe legen sich dunkellila unter meine mit Make-Up beschmierten und angeschwollenen Augen, meine Haare sind eklig fettig und zerzaust — ein Vogel könnte sie glatt für sein neues Zuhause halten. Ich strecke mir die Zunge heraus und sehe den dicken Belag und einen Hauch von Rot. Kirschlikör. Mein Blick fährt hinab zu meinen Händen. Sie sind seltsam zerkratzt, der Lack an den Fingernägeln fast vollkommen abgeblättert. Durch die Lücken im Nagellack kann ich dunkle Ränder unter den Nägeln entdecken, also drehe ich das Wasser auf, pumpe viel zu viel Seife auf die Nagelbürste und beginne zu schrubben. Als ich damit fertig bin, lasse ich das Wasser weiter laufen und halte meinen Kopf mit geöffnetem Mund darunter. Das tut gut. Ich richte mich wieder auf und schaue mir mein Ebenbild noch einmal genauer an: Flecken auf dem Shirt, das sich mahnend über meinen Oberkörper spannt, als wolle es sagen: „Du warst auch schon mal schlanker!“
Ich trete einen Schritt zurück und betrachte mich von der Seite, stelle mich auf Zehenspitzen und fahre über meinen Bauch. „Weich“, fällt mir als erstes ein. Ich schüttele den Kopf. Auch mein Gesicht hat sich innerhalb der letzten Jahre nicht zum Positiven verändert. Ich habe ein paar Falten bekommen, die Poren sind tiefer geworden, und ich scheine es nicht mehr hinzubekommen, meine Augenbrauen in symmetrischer Weise zurechtzuzupfen. Dazu gesellt sich der Ansatz eines Doppelkinns, für das die Neonröhre über dem Badezimmerspiegel wahrlich kein Geschenk ist.
Nichts, was eine heiße Dusche nicht wieder hinbekäme, würde meine Oma sagen. Ich nicke, bekomme ein schiefes Lächeln hin und steige, mich selbst belügend, in die Wanne.
Etwas ratlos und verloren steht sie da vorm Spiegel. Sie sieht unglücklich aus. Unglücklich, müde und unzufrieden. Ihre Augen sind gerötet und geschwollen, ihre Haare ein einziges Chaos.
Sie zupft lieblos an ihrem Körpers herum und beäugt sich kritisch. Die dunklen Brauen ziehen sich zusammen. Es scheint, als würde sie bezweifeln, dass die Person, die sie dort im Spiegel sieht, wirklich sie selbst ist. Sie streckt sich die Zunge heraus, und wenn man genau hinschaut, kann man erkennen, wie sie beim Anblick ihrer belegten Zunge angewidert erschaudert. Als ihr Blick auf ihre Hände fällt, lässt er ihr Spiegelbild für einen Moment allein. Sie beginnt, sich die Hände zu waschen, viel zu viel Seife, es schäumt wie verrückt. Das Wasser lässt sie laufen, hält dann den Kopf unter den Strahl. Ein paar Strähnen ihres dunklen Haares werden nass. Sie trinkt, als hätte sie seit zwei Tagen keine Flüssigkeit mehr zu sich genommen. Während sie sich wieder aufrichtet, läuft das Wasser weiter, doch sie bemerkt es nicht, denn sie ist viel zu beschäftigt damit, ihr eigenes Erscheinungsbild im Stillen zu kritisieren. Sie schüttelt mit finsterer Miene ihren Kopf, so als würde sie das komplette Unbehagen von sich werfen wollen. Das Nest aus Haaren auf ihrem Kopf bewegt sich nur leicht. Mit einem tiefen Seufzer blickt sie sich selbst ein letztes Mal tief in die Augen, lächelt gequält und dreht den Wasserhahn zu. Dann streift sie ihr knappes T‑Shirt ab, lässt ihren Slip zu Boden gleiten, steigt in die Wanne und verschwindet hinter einem quietschgelben Duschvorhang.