Kristin Moldenhauer – Auszug aus ihrem Romanprojekt „Schlafspuren“

Prolog Eleonora

Meine Mutter war schön und bescheiden, damit besaß sie alles, um die Frau meines Vaters zu werden. Ihre Stimme erhob sich, so die Erzählungen, nur ein einziges Mal, und zwar als ich mich aus ihrem Becken in die Welt kämpfte. Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Vater die Hoffnung, Nachwuchs zu bekommen, bereits aufgegeben. Er versuchte sein Gesicht zu wahren, indem er betrunken und begleitet von einer Entourage aus jungen, machthungrigen Männern durch unsere Siedlung stolperte und so viele Kälber schlachten ließ, dass der Geruch von ranzigem Fleisch noch monatelang in der Luft hing. Grausamkeit schützt nicht vor Gerede, aber sie sorgt dafür, dass die Menschen dies nur in der eigenen Abwesenheit tun. Mein Vater wusste das. Was er nicht wusste war, dass er dieses Mal tatsächlich Nachwuchs bekam. Meine Mutter, gleichwohl sie bei meiner Geburt anwesend war, wusste es ebenfalls nicht. Sie hatte zu viele ungeborene Kinder verloren, zu viele Blutungen und Schmerzen erduldet, als dass sie ihrem Körper noch zutraute etwas Lebendiges zu produzieren. Eine der ersten Erinnerungen an meine Mutter ist, wie sie mich mit demselben Blick betrachtete, wie die in die Kerzenflamme fliegenden Motten: Die Motten werden jeden Moment verglühen, aber für ein paar Augenblicke sind sie noch lebendig.

Meine Mutter wurde, soweit ich es beurteilen kann, nie wieder schwanger. Bis heute frage ich mich, ob mein Vater jetzt, wo er eine Nachfahrin gezeugt hatte, Mitgefühl mit meiner Mutter entwickelte oder ob sie einen Weg fand, ihren Körper, der ihr immer wieder Leben versprach, auszutricksen. Es wäre naheliegend, dass ich für meine Eltern ein behütetes Wunder war, aber das war ich nicht. Ich war das Wunder, an das zu glauben, gefährlich war und dem lieber nicht zu viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde.

Kristin Moldenhauer
© privat

Kristin Moldenhauer wurde 1990 in Osnabrück geboren. Sie studierte Kulturwissenschaften und ästhetische Praxis sowie Inszenierung der Künste und der Medien an der Universität Hildesheim. Seit ihrem Studium arbeitet sie medien- und theaterpädagogisch mit Kindern und Jugendlichen. Ihr Fokus liegt dabei auf dem gemeinsamen Suchen, Schreiben und Vertonen von Geschichten. In ihrem eigenen Schreiben ist sie inspiriert von phantastischen Welten und der Frage, wie diese Ideen eines intersektionalen Feminismus aufgreifen können.


Begründung der Jury

Nachwuchsstipendium

Dass Fantasy auch politisch sein kann, zeigt Kristin Moldenhauer in ihrem Roman-Projekt „Schlafspuren“. Ihre Romanhandlung ist in einer Welt angesiedelt, in der die politische Macht innerhalb verschiedener Siedlungen aufgeteilt ist und die Macht der dort ansässigen Familien ausschließlich an männliche Nachfahren vererbt wird. Unter dieser patriarchalen Gesellschaftsstruktur und ihrer eigenen Rolle darin leidet die Hauptfigur Nora, die als Tochter eines Machthabers materiell extrem privilegiert aufwächst, im Laufe des Romans aber gegen die Strukturen aufbegehrt. Das Fantastische vermischt sich dabei auf geschickte Weise mit dem Politischen, und zwar mit einer poetischen Sprache, die die politischen Themen eher unaufdringlich transportiert, aber zugleich Spannung aufbaut und neugierig macht. Dieser anspruchsvolle Ansatz, Fantasy-Literatur mit Feminismus, Intersektionalität und Klassenbewusstsein sprachlich gekonnt zu verknüpfen, hat die Jury von dem Projekt überzeugt. 

Zur Jury 2024 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Annette Freudling (Freie Autorin/Journalistin & Vorstand Bremer Literaturkontor), Axel Stiehler (Geschäftsleitung Buchhandlung Logbuch & Blaukontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Mitarbeiterin virt. Literaturhaus), Jörg Isermeyer (Freier Autor & Stipendiat 2022) und Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).