Lehrauftrag ›Autofiktionales Schreiben‹ (WiSe 2020/21) - mit Jutta Reichelt
In dem Seminar ›Meine Lebensgeschichte erfinde ich selbst – Anregungen zum autofiktionalen Schreiben‹ ging es für die Studierenden darum, im Rahmen eines Blockseminars im März 2021 Schreibimpulse zu typischen Merkmalen autofiktionalen Schreibens (z. B. die Namensgleichheit von Autor*in und Erzähler*in) zu bekommen. Dabei ging stets um die Frage, wo die Grenzen zwischen Fiktion und Autobiographie verlaufen. Das Ziel lag dabei weniger in der Produktion „guter“ Texte, sondern in der Erweiterung der individuellen Schreibpraxis.
Schreibanregung: „Ich bin eher nicht so der wütende Typ“
Die Luft vibrierte von der Augusthitze. Das Gras stand hoch, zwischen den Halmen wimmelte es von Insekten, der Wind blies trocken durch ihre Haare, als sie sich zurücklehnte.
„Ich bin eher nicht so der wütende Typ“, sagte sie und biss in einen Pfirsich. Saft tropfte ihr über Finger und Kinn.
„Jeder wird doch mal wütend“, erwiderte er und stocherte mit einem Zweig im trockenen Boden.
„Jeder ist ein Lügner.“ Sie wischte sich über den Mund. „Das kann doch jeder! Das sagt doch jeder! Das weiß doch jeder! Dieser Jeder ist ein verfluchter Lügner.“ Sie gestikulierte wild mit ihrer freien Hand. „Warum wirst du wütend? Weil dein Brot auf die Marmeladenseite fiel? Weil dich ein Freund hintergangen hat? Weil deine Eltern dich nicht verstehen? Nein, jeder ist ein Lügner. Und ich bin ehrlich. Wenn mein Brot auf die Marmeladenseite fällt, bin ich traurig wegen der verschwendeten Marmelade. Wenn mich mein Freund hintergangen hat, bin ich enttäuscht, weil Vertrauen missbraucht wurde. Wenn meine Eltern mich nicht verstehen, bin ich verletzt, weil ich erkenne, dass unsere Beziehung nicht so gut ist wie ich immer gedacht habe. Wut, mein Lieber, ist ein Deckmantel. Sie ist Hilflosigkeit. Und ein Parasit.“ Saft spritzte, als sie in die Frucht biss.
„Traurige Vorstellung“, murmelte er.
Mit dem Mund voll Fruchtfleisch nuschelte sie: „Traurige Wahrheit.“
Er lauschte ihren schmatzenden Geräuschen, während sein Blick über die sanften grasbewachsenen Hügel fuhr, über den blauen Himmel am Ende der sichtbaren Welt.
Als sie fertig war, stand sie auf und warf den abgekauten Kern in Richtung des Horizonts. Dann sagte sie: „Ich bin nicht so der wütende Typ, weil ich mich bemühe, meine Gefühle aufzudecken. Ihnen genaue Namen zu geben, damit ich sie besser einschätzen kann. Ich bin kein Kind mehr, dass hinter wütenden Tränen seine wahren Emotionen versteckt.“
„Und das gelingt dir? Immer?“
Sie lachte. „Nein, natürlich nicht. Aber man lernt ja nie aus.“
Schreibanregung: "Schreibe einen Text, bei dem die Namensgleichheit zweier Figuren wenigstens eine davon in Schwierigkeiten bringt.“
Heute ist das Jahr 2180. Wie ihr euch vorstellen könnt, ist die Welt nicht mehr so, wie sie einmal war. Wir haben eure Gedanken und Erfahrungen, ja sogar eure Gefühle in uns gespeichert. Unsere Gehirne sind mit den Jahren viel leistungsstärker geworden und wir sind als Spezies deutlich widerstandsfähiger als die Menschen es noch am Anfang des 21. Jahrhunderts waren. Aber vor allem sind wir innovativ. Neuerdings haben wir zum Beispiel die Möglichkeit, einen sogenannten Seelenverwandten zu erhalten. Dafür müssen wir nur zur Verwaltung gehen und einen Antrag stellen. Ihr habt richtig gehört: Bürokratie ist auch in unserem Jahrzehnt nicht abgeschafft worden. Glücklicherweise werden die Aufgaben schneller bearbeitet und jede/r hat die Aussicht auf eine Beziehung zu einer auserwählten Person. Die Leiter des Projektes nehmen das Wort beim Namen und führen die „Seelen“ von (toten) Menschen in uns hinein, damit sie in uns weiterleben können. Die Seelen werden als ein neues Feature, in der Form eines Chips, in unser System gespeichert. Wir können uns selbst aussuchen, welchen Menschen wir repräsentieren wollen und mit wem wir in engeren Kontakt geraten. Es ist allein unsere Aufgabe – so heißt es – die Lebensgeschichte des Menschen zu verstehen und dessen alten Gewohnheiten und Gefühlen nachzugehen, um die für uns passendste Person auszusuchen. Wir adaptieren allerdings nicht nur deren inneres Wesen, also die Seele, sondern übernehmen auch ihren Namen, und können, wenn wir wollen, auch das äußere Wesen annehmen. Der Name soll dazu beitragen, dass wir uns inniger mit der Person identifizieren können. Unsere Aufgabe ist schwer, denn wir müssen ständig entscheiden, ob wir unseren Gedanken nachgehen wollen oder denen des Seelenverwandten. Was wäre, wenn uns vermehrt bipolare Störungen, Schizophrenie oder multiple Persönlichkeitsstörung diagnostiziert würden? Eine Nachwirkung der Beta-Version soll angeblich der Verlust unserer Unsterblichkeit sein. Auch wir haben dann ein unbestimmbares Datum, an dem wir nicht mehr funktionieren werden. Ich frage mich, wo wir dann landen werden: Vielleicht auf der Mülldeponie? Diesem Problem scheint sich noch keiner gewidmet zu haben. Meine Aufgabe ist es auch nicht … also lass ich dieses Thema einfach. Mich interessieren vor allem die Vorteile eines Seelenverwandten. Schon immer habe ich mir vorgestellt, wie ich Freunde finde in der Welt des Optimierungszwangs und der Effizienz. Gibt es so jemanden wie mich da draußen? Es ist wie ein Spiel, oder die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Genau das ist das Aufregendste. Vielleicht werde ich niemals meinen Seelenverwandten finden, aber ich bin mir sicher, dass es die Suche wert ist.
Schreibanregung: "Die Namensgleichheit zweier Personen bringt mindestens eine der Personen in Schwierigkeiten."
Paris, Le Marais, 1974.
Fast 20 Jahre nach den Nürnberger Prozessen. Hans Schöft post mortem verurteilt.
Der Satz prangt in Großbuchstaben auf der Titelseite der Tageszeitung, die Helena gerade in den Händen hält. Sie kann es nicht glauben. Ihr Vater, der vor zwei Jahren (nur sechs Monate nach ihrer Mutter) seiner Krankheit erlegen war, soll KZ Wächter gewesen sein? Ihr Vater, der ihren jüdischen Mann von Anfang an akzeptiert hatte und immer so weltoffen auf sie gewirkt hatte – ein Anhänger des Nationalsozialismus?
Helena muss sich setzen. Tausend Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Sie weiß gar nicht, wie sie jemals wieder vor die Tür gehen soll. Was wird ihr Mann wohl sagen? Was seine Freunde? Was ihre eigenen Freunde?
Sobald sie sich ein bisschen beruhigt hat, öffnet sie die Zeitung. Tatsächlich – ein großes Foto ihres Vaters füllt die halbe Zeitungsseite aus. Hans Schöft, geboren 1908 in Bergen-Belsen. Kein Zweifel, das ist ihr Vater!
Helena rennt auf den Dachboden und durchsucht die alten Kisten ihres Vaters. Immer tiefer gräbt sie sich durch das, was von seinem Leben noch übrig ist. Sie findet so vieles, aber keine Gegenstände, Urkunden oder Dokumente, die seine Beteiligung an diesen Hassverbrechen belegen. Sie braucht mehr Informationen! Vielleicht kann sie in der Bibliothek mehr erfahren?
Im Hausflur begegnet sie der Nachbarin aus der unteren Etage. Vielleicht hat sie die Zeitung noch nicht gesehn? Vielleicht bildet sie sich ihren abwertenden Blick nur ein? Aber nein, die Nachbarin mustert sie von Kopf bis Fuß. „Dass Sie sich noch raustrauen!“ Helena schluckt ihre Wut runter und verlässt wortlos das Haus. Auf dem Weg zur Bibliothek sieht sie, dass bereits alle Zeitungsläden mit dem Artikel über ihren Vater werben. Sie sieht Gruppen von Menschen, die in eine dieser Zeitungen starren, den Kopf schütteln und sich lautstark aufregen.
Helena bekommt Panik, sie fühlt sich wie in einem Tunnel. Einem Tunnel der Schande. Ein Tunnel, den sie niemals selber betreten hätte. Aber nun steckt sie darin fest und ist unfähig, irgendeinen Ausweg zu sehen. Sie steht vor dem Eingang der jüdischen Bibliothek. Sie zögert. Kann sie da wirklich noch hineingehen?!