Tag 1
Wir entfremden uns
„Die Wissenschaft erlernst du mit Hilfe der Schriften, die Kunst durch Übung, aber die Entfremdung kommt dir durch Gesellschaft zu.“
Dies ist die Übersetzung eines Ausspruchs des Sufi-Mystikers und Dichters Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī aus dem 13. Jahrhundert. Der Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich ihn gelesen habe.
Wir entfremden uns.
Ja, es ist sehr spürbar, dieses Entfremden.
Was für ein seltsames Wort: „entfremden“. Es scheint beinahe das Gegenteil von sich selbst zu umfassen.
Ich bin misstrauisch gegenüber Sprache geworden.
Und doch sammle ich Wörter und Sätze.
Ich bin Autorin. Ich formuliere mich. Ich arbeite mit Sprache.
„Wenn die Lippen schweigen, hat das Herz hundert Zungen“, schreibt Rūmī.
Ich sehne mich nach der Sprache meines Herzens, nach der Sprache unserer Herzen. Nach wahrhafter Begegnung. Oder ist es eine Sehnsucht nach Stille? Alles zugleich. Jedenfalls eine Art von Fülle, nicht Leere. Kein Geschwätz.
Wörter lassen sich drehen und wenden. Sie sind Vehikel.
Aber ausgesprochene Sätze und geschriebene Texte verlangen nach Ordnung, nach Reihenfolge, Rhythmisierung, nach Betonung, Priorisierung, Selektion, Weglassen…
„Inhabiting the fullness of who we are.“
Dieses Bild, diese Formulierung entstammt ebenfalls dem Sufismus.
Oft habe ich derzeit das Gefühl, als würden Abertausende von Wörtern in mir herumstehen und die Sicht verstellen. All die Gedanken, die ich mir bereits gemacht habe und Generationen von Menschen vor mir. Überholte Narrative.
Wir entfremden uns.
Oder ich möchte einen Gedanken, eine Wahrnehmung formulieren und dabei hageln alle Assoziationen, Aspekte, Perspektiven, Wenn und Aber gleichzeitig auf mich ein und ich krümme mich zusammen in dem Gefühl, all dem innerhalb meines Ausspruchs niemals gerecht werden zu können.
Entfremde ich mich von meiner eigenen Sprache? Geht das? Stimmt das?
Jedenfalls fällt es mir unsäglich schwer, mich selbst gegenwärtig zu fühlen im Dickicht der vorgefassten Meinungen und Erkenntnisse.
Und ich glaube wahrzunehmen, dass ich mich in meinem eigenen kleinen Prozess an einem sehr ähnlichen Punkt befinde wie die Menschheit im Großen und Ganzen. Kein Wunder.
Es mag Menschen geben, die längst in Verbindung getreten sind oder solche, die immer in Verbindung waren.
Wir hier entfremden uns.
Vom Urgrund des Seins.
Aber ich glaube daran, dass Veränderung, dass (Wieder-)Annäherung an uns möglich ist.
Ich bleibe eine „unverbesserliche Optimistin“ und eine Träumerin, wie ich im März 2020 an dieser Stelle formuliert habe, auch wenn die letzten Jahre tiefgreifende Veränderungen in mir in Gang gesetzt haben. Bei allem, was unsere Weltgesellschaft als Ganzes erschüttert und tagtäglich auffordert, sich endlich wieder dem Kern des Lebens zuzuwenden, wohl auch eine Altersfrage.
Es ist Zeit, zu werden, was ich schon immer war.
Klingen meine Worte zu pathetisch? Zu anmaßend?
Sind das überhaupt meine Worte?
Jedenfalls steckt alles voller Widersprüche.
Sowieso.
Und natürlich liebe ich Sprache.
Ich liebe Geschichten, Gedichte, Essays, Songtexte, Erzählungen… Geschenkte Worte, geteilte Worte.
Aber…
Tag 2
Weckrufe
Wider den Größenwahn
Wider die Besinnungslosigkeit
Wort für Wort
Zeile für Zeile
Seite für Seite
Kapitel für Kapitel
Schwankender Boden
Stürmische Böen
Urgewaltiges Wasser
Sengende Hitze
Taumelnde Individuen
Auf der Suche nach
Allumfassenden Gefühlen
Nach natürlichem Sein
Vertrauen, Hingabe, Geborgenheit
Gemeinschaft und Selbstbegegnung
Körperbewusstsein und Spiritualität
Nach reifem Umgang
Mit Endlichkeit
Mit Fehlern
Nach Demut und Respekt
Ein Märchen?
Jedenfalls lebten sie nicht einfach glücklich
Bis an ihr Lebensende