Leyla Bektaş: ›Das ist nicht meine Geschichte‹

Niemand lebte mehr hier, wo alle geboren waren, mein Vater, seine Geschwister, sein Vater. Das Dorf lag abgeschieden. An der Autobahn hierher war lange nichts gemacht worden. Eine zweispurige Strecke mit Gemüsehändlern an den Rändern. Die roten Berge im Hintergrund, eine karge Region.

Wir fuhren zu fünft im PKW von Hüseyin Enişte. Hüseyin Enişte war im Allgemeinen ein stummer Fahrer, er fuhr schnell, aber sicher. Manchmal echauffierte er sich urplötzlich über andere Fahrer, manchmal erzählte er Witze, die ich nicht verstand, die aber sehr lustig zu sein schienen. Meine Schwester und ich saßen mit meinem Vater auf der Rückbank. Wir waren nicht angeschnallt und etwas eingequetscht.
Mein Onkel Hüsnü Amca, der sich erst drei Tage zuvor unserer Reise angeschlossen hatte, saß vorne und erzählte uns seit Kaman, dem Dorf der Walnüsse, von Selli Dede.

„Man nannte ihn Selli Dede, weil ihm immer etwas Schleim aus dem Mund lief“, sagte Hüsnü Amca.
Selli Dede stand oft am Brunnen des Löwen. Das war damals unsere einzige Wasserquelle im Dorf. Wir liefen zum Brunnen, einen Eimer in jeder Hand.

Ihr müsst wissen, das Wasser aus dem Brunnen des Löwen gilt bis heute als heilig. Die Pilger trinken es, bevor sie die Grabstätte des heiligen Hacıbektaş Veli betreten.
Hüsnü Amca drehte sich zu uns um, während er erzählte. Seine rechte Augenbraue hüpfte auf und ab.

Selli Dede wusch sich Gesicht und Hände am Brunnen des Löwen. Danach flog er über die Bibliothek zurück auf den Hügel, wo sein Haus stand. Ja, ich sah ihn tatsächlich wegfliegen. Ich weiß, es klingt komisch, wenn ich das so erzähle. In meinen Ohren klingt es auch komisch zu sagen, er flog einfach so davon.

Aber so habe ich es in Erinnerung. Wir kamen zum Brunnen und Selli Dede, der sich gerade gewaschen hatte, flog zur Bibliothek und dann zurück auf seinen Hügel.

Hüseyin Enişte, der kein Deutsch verstand, unterbrach meinen Onkel.
„Was erzählst du ihnen da für alte Geschichten? Sag lieber was zu den Sehenswürdigkeiten. Hacıbektaş hat heutzutage einiges zu bieten. Aus der ganzen Welt reisen sie an. Die Grabstätte ist jetzt ein Museum. Und es gibt Audio-Guides. Englisch, Französisch, Deutsch.“ „Nein, nein“, versuchte ich in meinem gebrochenen Türkisch zu sagen. „Es ist interessant. Wir mögen die Geschichte.“

Porträt von Leyla Bektas
© Janina Bunk

Leyla Bektaş, geboren 1988 in Achim, aufgewachsen in Bremen. Studierte Romanistik in Köln, Bordeaux und Mexiko-Stadt, später Literarisches Schreiben in Leipzig. Arbeitete als Dozentin für spanischsprachige Literatur an der Universität Köln. Lebt seit 2019 mit ihrem Mann und Sohn wieder in Bremen. Schreibt Prosa und Essayistisches und veröffentlichte Kurzgeschichten in Zeitschriften und Anthologien. Arbeitet seit 2017 an ihrem Familienroman und interviewt dafür Familienmitglieder und recherchiert innerhalb ihrer deutsch-türkischen Familie.

In Folge 2 unseres Podcasts ›Schreibgespräche‹ erzählt Leyla Bektaş von ihren Arbeitsweisen.

Begründung der Jury

Nachwuchsstipendium
In ihrem Roman-Projekt Das ist nicht meine Geschichte entfaltet Leyla Bektaş eine komplexe Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg. Die Handlung beginnt im Jahr 2017, kurz nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei. Die Ich-Erzählerin Alev, Tochter einer deutschen Mutter und eines türkeistämmigen Vaters, erfährt, dass ihr Onkel Necdet, der die Familie jahrelang zusammengehalten hat, in Istanbul im Sterben liegt. Dies ist der Ausgangspunkt einer Suche, die geprägt ist von der Hin- und Hergerissenheit der Protagonistin zwischen ihrem Alltagsleben in Köln und den „Wurzeln“ ihres Vaters. Äußerst gelungen erscheint der Jury dabei der Versuch, die persönliche Geschichte und die Mehr-Generationen-Erzählung „zwischen“ zwei Kulturen und Sprachen mit aktuellem politischen Zeitgeschehen zu kombinieren, sodass ein „Familien-Puzzle“ der besonderen Art entsteht. Im Mittelpunkt des eingereichten Manuskriptauszugs steht Alevs Erinnerung an eine Taxifahrt vom Flughafen ins „Heimatdorf“ der Familie. Fein erzählt und stilistisch überzeugend kommen bereits in dieser kurzen Passage zentrale Themen wie Erinnerung, Identität und Sprache in kondensierter Form im Innenraum des Autos zusammen. Absolut flüssig nimmt die Erzählung ihren Lauf, in der die Autorin äußerst geschickt türkische Begriffe einarbeitet, die auf diese Weise dem Text einen ganz eigenen Ton verleihen.

Zur Jury 2020 gehörten Dr. Alexandra Tacke (Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), PD Dr. Karen Struve (TU Dresden & Vorstand Bremer Literaturkontor), Alexandra Rempe (Geschäftsführerin Buchhandlung Storm), PD Dr. Ian Watson (freier Autor & Vorstand virt. Literaturhaus) und Helge Hommers (Journalist & Stipendiat 2018).