Katrin Schumacher – Auszug aus dem Roman-Projekt „Das Wunderschiff und das furchtsame Herz“
Kapitel 3: Bereue deine Taten
Esra blickte nicht auf, als sich die Zellentür knarzend öffnete. Sie saß auf dem staubigen Fußboden, die Knie eng an den Körper gezogen, und starrte auf den Lichtfleck, der vor ihr auf die Steine fiel. Tagein, tagaus beobachtete sie diesen in gleichmäßige Rechtecke zerteilten Lichtfleck, der, mal scharf gezeichnet, mal von Wolken gebrochen, doch immer da war. Wie eine Sonnenuhr zeichnete er den Lauf der Zeit in diesem weltvergessenen Raum nach.
„Lady Addison?“ Eine farblose Männerstimme, höflich der Tonfall: keiner der Wächter. „Sidney Everly. Ich bin Anwalt.“ Er räusperte sich über ihr Schweigen hinweg. „Wir haben uns schon getroffen, im Haus Ihres Vaters, erinnern Sie sich? Ich berate seine Lordschaft in Rechtsfragen.“ Frisch geputzte Schuhe, eine Spur aufgetragen, aber von ordentlicher Qualität, traten in den Lichtfleck. Schmale Hosenbeine schlossen sich an, krumme Knie, darüber ein schwarzer Leibrock. Die Miene des Anwalts war so unbewegt und grau wie ihre Zelle, das einzige Zeichen von Leben das Licht, dessen Reflexion auf seinem Monokel umher huschte.
„Ich komme, um Sie zur Verhandlung zu begleiten.“
Die Verhandlung. Sie erinnerte sich vage, dass einer der Wächter sie erwähnt hatte. Esra hatte nicht genau hingehört.
„Ich gehe davon aus, dass man Ihnen alles bringt, was Sie benötigen?“
Sie folgte Everlys Blick zu dem Bett hinüber, zu den Büchern, die auf einem Stapel daneben lagen, dem Stickrahmen, dem Ohrensessel. Was hatte ihr Vater sich dabei gedacht, ausgerechnet den Ohrensessel ihrer Mutter in dieses dreckige Loch schaffen zu lassen, in das er sie geworfen hatte? War es eine sentimentale Erinnerung an glückliche Zeiten, oder doch schlicht Gedankenlosigkeit? Hatte sie ihn ihr Leben lang so verkannt?
„Ihr Vater hat mich beauftragt, Sie vor Gericht zu vertreten.“ Everly knetete die blassen, langgliedrigen Hände, an denen die Adern blau hervortraten. „Er macht sich Sorgen um Sie.“
„Das kommt etwas spät, denken Sie nicht?“ Sie verscheuchte eine Fliege, die sich auf ihrem Handrücken niederlassen wollte. Niemals würde sie sich an all das Ungeziefer gewöhnen; an die Insekten, die jede Nische mit krabbelndem, staksendem, geflügeltem Leben füllten, die Maden, die sich durch den Dreck gruben, die Parasiten, die sich in ihren Kleidern einnisteten, die Blutsauger, die nachts über sie herfielen.
„Ich habe auch mit Ihrer Zofe gesprochen.“
Clara! Ihr Herz setzte einen Schlag aus. War die Polizei Clara auf die Spur gekommen? „Warum haben Sie mit ihr gesprochen?“
„Sie bat um ein Gespräch.“
Esra atmete tief durch, ihr Herz fand zurück in seinen Takt.
„Sie machte einen verstörten Eindruck.“ Das Monokel glitzerte und gab Everly ein insektenhaftes Aussehen: eine übergroße, graue Heuschrecke mit riesigem Auge, mit dem er direkt in ihren Kopf blicken konnte. „Fast schien es mir, als habe sie ein schlechtes Gewissen.“
„Natürlich hat sie ein schlechtes Gewissen.“ Sie zwang sich, den Blick des riesenhaften Facettenauges zu erwidern. „Sie war meine Zofe, und als gute Zofe hätte sie bemerken müssen, dass ich auf Abwege geriet, nicht wahr?“
Katrin Schumacher, 1984 in Bremen geboren, studierte Germanistik in Bremen und Olomouc (Tschechische Republik) und promovierte auf dem Gebiet der deutschen Literatur des Mittelalters. Aktuell ist sie an einer niedersächsischen Universität im Bereich der Internationalisierung tätig und koordiniert dort unter anderem Angebote für internationale Studierende. Sie hat kürzlich ihr erstes Romanmanuskript fertiggestellt und schreibt nun unter dem Arbeitstitel „Das Wunderschiff und das furchtsame Herz“ an ihrem zweiten Romanprojekt.
Begründung der Jury
Nachwuchsstipendium
Kann ein Dampfschiff als Ich-Erzähler in Erscheinung treten? Kann der Schauplatz einer Geschichte selbst zum Perspektivträger werden? In ihrem Roman-Projekt „Das Wunderschiff und das furchtsame Herz“ hat Katrin Schumacher dieses literarische Experiment gewagt und überzeugend umgesetzt. Vor dem Hintergrund der beginnenden industriellen Revolution in Großbritannien zeichnet sie das Porträt einer Gesellschaft zwischen Fortschrittbegeisterung und Rückwärtsgewandtheit. Es ist eine Welt des Umbruchs, in der nicht nur technische Wunderwerke Konjunktur haben, sondern auch Angst und Irrationalität.
Mit kompositorischer Finesse gelingt es ihr, diesen Zeitgeist in eine fesselnde Kriminalhandlung zu übersetzen und bis ins Detail lebendig werden zu lassen. Handwerkliches Können verbindet sich mit einer enormen Rechercheleistung zu einem Text, der die Leser*innen in seinen Bann zu ziehen vermag. Ausschlaggebend für die Jury-Entscheidung war nicht zuletzt der Eindruck, dass Katrin Schumacher eine Bewerbung von beachtlicher Reife vorgelegt hat und das Potential mitbringt, ihr Projekt zu einem fertigen Roman auszuarbeiten. Die Jury ist gespannt auf die weitere Entwicklung und gratuliert Katrin Schumacher sehr herzlich.
Zur Jury 2023 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Annette Freudling (Freie Autorin/Journalistin & Vorstand Bremer Literaturkontor), Sven Odens (Geschäftsführer Buchhandlung Buntentor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Mitarbeiterin virt. Literaturhaus) und Leyla Bektaş (Freie Autorin & Stipendiatin 2020).