Ausschnitt von einem Arbeitstisch aus einer Schreibwerkstatt

Werkstatt-Texte

SoSe 2021: ›Literarische Figuren im Dialog‹ (Digitale Lehre mit synchronen und asynchronen Elementen) - mit Angelika Sinn

›Literarische Figuren im Dialog‹ hieß das im Sommersemester 2021 von Angelika Sinn angebotene Uni-Seminar. Neben der Entwicklung von Charakteren für Geschichten und Romane, kreierten die Studierenden Szenen und Schauplätze und übten sich vor allem im Schreiben von Dialogen. Eine der Aufgaben lautete, eine in sich geschlossene Erzählung oder Episode eines Romans zu schreiben und dabei mit verschiedenen Dialogformen zu experimentieren. Unten zwei Beispiele.

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Schwestern

Der Streit mit Phia geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie kann meine beste Freundin mich so hängen lassen? Ich dachte, dass ich immer auf sie zählen kann, doch schon wieder beweist sie mir das Gegenteil.
Nachdem ich aus einem Albtraum erwacht bin, der mir wie jede Nacht den Schlaf geraubt hat, gehe ich in die Küche und mache mir einen Kaffee, um Energie für den Tag zu tanken.
Es sind schon ein paar Tage vergangen, seit ich das letzte Mal draußen war, deshalb entscheide ich mich, heute in den Park zu gehen, um meinen Kopf ein bisschen frei zu kriegen. Ich schaue auf mein Handy und bemerke fünf verpasste Anrufe von Phia. Macht sie sich etwa Sorgen um mich? War ich zu streng zu ihr? Ich öffne die rote Kaffeedose und der Geruch der frischen Bohnen steigt mir in die Nase. Mein Handy leuchtet auf. Mit noch müden Augen lese ich eine Nachricht von Phia: „Hey, ich weiß, dass du noch immer auf mich sauer bist, aber können wir mal reden? Ich meinte das alles nicht so.“
Ich zögere einen Moment lang, doch dann antworte ich ihr: „Im Moment möchte ich nicht reden. Bitte akzeptiere es!“
Nach ein paar Sekunden kommt wieder eine Nachricht. „Bitte sei nicht so stur … gib mir eine Chance, es dir zu erklären.“
Völlig genervt schreibe ich ihr nur ein kurzes „Nein, jetzt gerade nicht.“
Ich lege das Handy neben meine Kaffeetasse und sehe erneut eine ungelesene Nachricht, doch ich beschließe, mich erst mal anzuziehen, bevor ich antworte. Nervös gehe ich zum Küchenfenster und erblicke ein paar Sonnenstrahlen. Das Wetter hat wohl bessere Laune als ich, dennoch werfe ich mir eine dünne Strickjacke über die Schultern, denn man weiß nie, wie schnell sich das ändern kann. Dann packe ich auch noch mein kleines Skizzenbuch ein, damit ich im Park etwas zum Zeichnen habe.
Ich entscheide mich, zu Fuß in Richtung Park zu laufen, und es dauert nicht allzu lange, bis ich ankomme. Ich schnappe mir die erstbeste Bank und setze mich hin. Aus meiner Tasche hole ich das Skizzenbuch und zeichne die Wiese, die vor mir liegt und auf der viele Gänseblümchen blühen. Kurz darauf skizziere ich zwei Personen, als mich ein kleines Mädchen von der Seite anspricht.
„Was machst du da?“, fragt sie und schaut mich mit ihren dunkelbraunen Augen an.
„Ich versuche zu malen, doch ich denke, dass ich nicht so gut darin bin“, entgegne ich ihr mit einem Lächeln.
„Ich finde es gar nicht so schlecht. Aber auch nicht besonders gut.“
Ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen, doch sie schaut mich weiterhin ruhig an.
„Malst du etwa zwei spielende Kinder auf der Wiese? Oder sind das zwei Hunde, die mit einem Ball spielen?“ Sie lässt ihren Blick nicht von meiner Zeichnung.
„Das sollen zwei spielende Kinder sein, besser gesagt: meine Schwester und ich“, antworte ich und merke, dass sie großes Interesse an meiner Skizze hat.
„Weißt du“, sagt sie „ich habe auch eine Schwester, doch mit der verstehe ich mich nicht so gut. Wir streiten uns fast jeden Tag. Sie ist noch klein und versteht nicht, dass sie meine Spielzeuge nicht kaputtmachen darf. Hat deine Schwester dir auch deine Spielzeuge geklaut?“
Ich lächele. „Nein. Sie war schon ein Stückchen älter als ich, aber Kleines … Ich sage dir mal was: Es ist ganz egal, was deine Schwester macht, denn am Ende des Tages ist sie immer noch deine kleine Schwester. Du solltest sie lieben und vor bösen Monstern beschützen, denn so macht man das als große Schwester. Vielleicht bist du noch zu jung, um das zu verstehen, aber das Leben ist kurz und die Menschen gehen so früh.“
„Du hast Recht. Meine Mama hat das auch immer zu mir gesagt, bis sie leider selbst gehen musste. Papa meint, dass sie jetzt ein Engel geworden ist, na ja du weißt schon mit weißen großen Flügeln.“
Während sie das sagt schlägt mein Herz auf einmal so schnell.
„Ist deine Schwester auch ein Engel?“, fragt sie und schaut mich dabei wieder mit ihren großen Augen an.
„Ja“, antworte ich, ohne zu überlegen.
Auf einmal nimmt sie meinen Stift in ihre kleine Hand und malt zwei Engelsflügel an den Rücken meiner Schwester.
„Hier, so sieht es besser aus“, sagt sie während sie auf meine Skizze schaut.
„Du hast Recht, danke, jetzt sieht mein Bild nicht mehr so schlecht wie vorher aus.“
Sie schaut immer noch auf das Bild, während ich aus der Ferne ihren Vater rufen höre: „Maddy! Wir müssen nach Hause gehen!“
Sie verabschiedet sich und rennt schnell davon. So klein und schon so schlau! Die Unterhaltung hat etwas mit mir gemacht, ich spüre so ein warmes Gefühl in meinem Herzen. Doch dieser Moment wird unterbrochen, als mein Handy klingelt. Ich wühle in meiner Tasche herum, bis ich es finde. Auf dem Bildschirm leuchtet das Foto von Phia auf.
„Nicht schon wieder“, denke ich, doch ich beschließe, dieses Mal ranzugehen.
„Hallo“, antworte ich kalt.
„Hey…Ich halte es nicht mehr aus. Wir sind schon so lange befreundet und du ignorierst mich seit Tagen. Wie oft soll ich mich noch bei dir entschuldigen?“ Ich merke, wie ihre Stimme immer lauter wird. „Ich mache mir so derbe Vorwürfe“, fährt sie fort, „ich weiß, es war nicht richtig, dich so hängen zu lassen, doch bitte sei nicht sauer auf mich.“
„Phia…Ich bin im Moment nicht zu Hause“, sage ich „wenn du möchtest, treffen wir uns in einer Stunde bei mir und können miteinander reden“. Dann lege ich sofort auf, denn ich kann es nicht ertragen, dass sie so bedrückt klingt.
Ich schaue meine Skizze an und sehe meine Schwester mit ihren langen blonden Haaren und den Engelsflügeln, wie sie da auf der Wiese sitzt. Ich bemerke eine Träne, die meine Wange hinunterläuft. Mit dem Ärmel meiner Jeansjacke wische ich sie weg und packe mein Skizzenbuch in die Tasche zurück. Während ich mich auf den Rückweg mache, gehe ich im Kopf die Unterhaltung mit dem kleinen Mädchen noch mal durch. Ich entscheide mich, die Bahn zu nehmen, da ich so schneller zu Hause ankomme und mich mental auf das Treffen mit Phia vorbereiten kann.
Angekommen weiß ich nicht, was mich erwartet. Mein Handy leuchtet auf, und ich lese eine Nachricht von Phia. „Bin da, kannst du mir die Tür aufmachen?“
Ich laufe die Treppe runter und öffne ihr. Sie steht da. Ihr ansonsten immer perfektes Make-up ist verwischt. Ich erkenne, dass sie geweint hat, und Schlaf hatte sie die letzten Tage womöglich auch nicht so viel.
„Hallo“, kommt aber nur aus mir heraus.
Wir stehen nun da und schweigen. Für Außenstehende sieht es bestimmt so aus, als wären wir zwei Menschen, die sich zum ersten Mal im Leben begegnen.
Sie bricht die Stille. „Dakota … Ich weiß, es war nicht richtig, dich so hängen zu lassen. Ich hätte bei dir bleiben und dir wieder auf die Beine helfen sollen. Man ist danach immer schlauer. Ich habe einfach spontan gehandelt und dem Date zugesagt.“ Ich schaue sie vorwurfsvoll an, doch sie spricht weiter. „Du bist mir so wichtig. Du bist wie eine kleine Schwester für mich“, sagt sie mit gebrochener Stimme. Einen Moment lang stehen wir da, zu stur und zu dickköpfig, um den ersten Schritt aufeinander zu zu wagen.
„Ach, ich halte das alles nicht mehr aus“, sage ich plötzlich.
In diesem Moment erinnere ich mich an das kleine Mädchen im Park. Ich falle in die Arme meiner besten Freundin. Natürlich fließen Tränen, doch nun haben wir uns wieder.
„Vielleicht habe ich auch überreagiert“, gestehe ich. „Ich sollte wohl mal mehr auf mein Umfeld achten und nicht nur auf meine eigenen Probleme schauen. Ich verzeihe dir. Ehrlich gesagt, bist du die einzige Person hier, die mich noch auf der Welt festhält. Dich zu verlieren, könnte ich nicht verkraften.“
Nach diesen Worten gehen wir rein und holen unsere versäumten Abende nach. Es tut gut, Phia zu sehen und sie bei mir zu haben.

Siebzehn

Als Florian siebzehn Jahre alt war, hatte er Pickel auf der Stirn und sah seinem Vater nicht mehr in die Augen.
„Wo gehst du hin?“, fragte sein Vater. Die aufgeschlagene Zeitung verdeckte die untere Hälfte seines Gesichtes. Die buschigen Augenbrauen waren zusammengezogen. Florian schlüpfte in seine Turnschuhe. „Treff mich mit jemandem.“
„Mit wem?“
„Mit einem Mädchen.“ Er zog den Reißverschluss seiner Sweatjacke bis zum Kinn hoch und spürte das Lächeln im Gesicht seines Vaters, konnte die bittere Erleichterung und den Stolz auf der Zunge schmecken.
„Nimm dir ruhig ein paar Scheine aus meinem Portemonnaie. Gib ihr ein Eis aus.“ Florian nahm sich das Geld, schob es in seine hintere Hosentasche.
„Um zehn bist du zurück.“ Sein Vater ließ die Zeitung sinken und sein Blick hing an Florians Rücken, bis der das Haus verlassen hatte.
Es waren zwanzig Minuten mit dem Fahrrad bis zu ihrem Treffpunkt. Der Sommer war schon da. Es war warm und auf dem Schotterweg vor ihm schon dämmrig. Schließlich gelangte er an ein riesiges Getreidefeld. Er stieg ab und schob sein Rad mitten hinein. Ein paar Meter nur und er ließ sein Rad neben ein zweites fallen, das dort lag, als wartete es auf Gesellschaft. Noch ein paar Schritte weiter und der Boden fiel leicht ab, die dicht stehenden Getreidehalme lichteten sich etwas.
Heiko sah auf, als er Florian kommen hörte. Sein Haar hatte die Farbe der goldenen Ähren um ihn herum. Er lächelte. „Du kommst spät.“
Florian zuckte mit den Schultern und ließ sich neben ihn auf den Boden fallen. Der Weizen stach durch seine Jeans, seine Jacke. Der Himmel hatte die Farbe von rosa Kaugummi.
„Was ist das denn für eine Begrüßung?“ Heikos Blick glitt zu den dünnen Baumwollhandschuhen an Florians Händen. „Was ist passiert?“
Florian bewegte sich. Ihre Schultern berührten sich. Er spürte Heikos Wärme in seinem ganzen Körper. „War ein bisschen viel heute. Das ist alles“, antwortete er.
Heiko wartete. Florian sagte in die Stille hinein: „Mein Vater – “ Seine Stimme brach.
„Ich weiß“, sagte Heiko. „Kann ich etwas für dich tun?“
„Ich möchte nur hier liegen.“
Sie starrten hinauf zum Himmel, bis sich erste Sterne zeigten. Florian drehte den Kopf, betrachtete Heikos Profil. Er wollte mit den Fingern seinen Kiefer entlangfahren, in seine hellen Locken greifen.
„Wie ist es bei dir? Wie geht es dir?“, fragte er schließlich.
Heiko hatte die Augen geschlossen und holte nun tief Luft. „Papa kam gestern Nacht wieder spät nach Hause. Meine Mutter hat schon geschlafen, aber ich hab gehört, wie er sie wachgemacht hat. Es war lauter als sonst. Vielleicht kam es mir auch nur so vor. Ich habe meine Kopfhörer nicht gefunden.“ Er öffnete die Augen. „Ich bete jeden Tag zu Gott, dass er mir genug Selbstkontrolle schenkt, damit ich ihn nicht einfach umbringe.“
Florian griff nach Heikos Hand. Sie sahen sich an.
„Nur noch ein halbes Jahr.“
Heiko wiederholte: „Ein halbes Jahr. Dann lassen wir dieses Drecksloch hinter uns.“
Sein Daumen fuhr über den Stoff des Handschuhs, der sich eng an Florians Haut schmiegte.
„Ist das okay?“
Florian nickte. Heiko rollte sich auf die Seite. Sein Zeigefinger strich über Florians von Stoff bedeckten Handrücken, schob den Ärmel der Jacke etwas hoch, fuhr langsam über den oberen Rand des Handschuhs.
„Und das?“
Erneutes Nicken, ein bisschen atemlos, ein bisschen furchtsam.
Heikos Zeigefinger schob sich in den Handschuh und strich sanft über die Haut darunter, die rau war vom vielen Händewaschen. Florian richtete sich auf, beugte sich über Heiko und küsste ihn.
Heiko zog ihn über sich, fuhr mit den Händen über seinen Rücken und schob sie schließlich in die hinteren Taschen von Florians Jeans.
„Was ist das denn?“ Heiko unterbrach den Kuss, zog eine Hand zwischen ihre Gesichter, in den Fingern den Fünfzigeuroschein. „Wo hast du den denn her?“
„Aus dem Portemonnaie meines Vaters.“
Heiko grinste. „Gestohlen? Du böser Junge.“
Florian lachte und rollte sich neben ihn. „Nein. Für ein Eis mit dem Mädchen, mit dem ich mich treffe.“
Heiko stieß ihn gegen den Arm. „Du fährst also zweigleisig! Wusste ich’s doch. Bestimmt Lisa aus der Parallelklasse. Oder Henrieke, eine Stufe unter uns, sie ist wirklich total nett – “
Wieder lachte Florian. „Halt die Klappe, du Trottel.“
Mit niemandem konnte Florian so sprechen wie mit Heiko. Bei niemandem traute er sich überhaupt, zu sprechen. Bei niemandem traute er sich, aus vollem Herzen zu lachen.
„Also, was fangen wir jetzt damit an?“ Heiko drehte den Geldschein in seiner Hand.
„Wie wäre es mit Eis?“, fragte Florian.
Heiko lächelte.
Mit den Fahrrädern fuhren sie zur nächsten Tankstelle. Zu dem Eis gesellten sich Bier und Chips. Sie aßen und tranken und küssten sich hinter der Tankstelle in dem kleinen Waldstück.
Um eine Minute nach zehn war Florian zu Hause.
Seine Mutter hing gerade eine Jesusfigur über der Küchentür auf, sein Vater saß auf dem Sofa und sah fern.
„Ich dachte, hier kann er uns alle besser sehen“, sagte Florians Mutter. Sie sah ihren Sohn an. „Du siehst gut aus. So – erfrischt. War es eine gute Verabredung?“
„War es.“
Sein Vater kam aus dem Wohnzimmer. „Hattet ihr Spaß?“
„Ja.“ Florian beugte sich hinunter, um seine Schuhe aufzuschnüren.
„Gut, schön. Behalte ruhig das Restgeld. Für eure nächste Verabredung.“
„Du siehst müde aus“, sagte seine Mutter. „Geh doch direkt ins Bett. Ich räume deine Schuhe weg.“