2020
Hella Streicher: geboren 1955 in Bremen, lebte dort. Studium der Germanistik, Soziologie und Publizistik in Göttingen. Als Gymnasiallehrerin mangels Planstellen für die Fächerkombination Deutsch/Politik stellenlos geblieben, studierte sie fortan das ›Läben‹: als Fabrikarbeiterin, in einem medizinischen Labor und im Buchhandel. Nebenher komponierte sie, trommelte in diversen Bands, veröffentlichte die LP/CD »Friß oder stirb« (The Scarlet Letter; Überschall Records, 1990) und schrieb »Höhere Welten. Ein deutscher Alltagsroman« (BoD, 2003), außerdem Gedichte und Essays für ein Bremer Szenemagazin. Seit 2001 erschienen Texte von ihr im Internet sowie gelegentlich in Anthologien.
Liebe Hella, du widerborstige Streiterin für das Schöne, Wahre und Reine, es ist also wahr, Du bist nicht mehr unter uns. Wer soll uns nun über den jährlichen Ingeborg Bachmann Preis aufklären? Wer denn, kettenrauchend wider den Zeitgeist zu Felde ziehen? Good Bye… my Dear… thank you for the music… es wird leerer im Viertel.
Wann sind wir uns erstmalig über den Weg gelaufen, 82 im „Römer „als Du bei der Düsterband „Schwarze Spiegel“ in Joy Division Manier getrommelt hast und ich gerade auf eingebildetem Höhenflug mit „Ego/N “ unterwegs war, unsere erste Single. Irgendwann landeten wir in Deiner Bude in der Humboldtstraße. Du entpupptest Dich als kompetente Musikliebhaberin, bei Dir gab es Bach & Beatles, und natürlich auch viel Post-Punk und zu meinem Erstaunen gar die erste von Led Zeppelin, auf dem Cover durfte ich mich denn also verewigen. Später mit Gründung des Bistro Brazil wurdest Du schnell Stammgast und versorgtest uns fortan mit den überraschendsten Mix-Tapes mit so crazy Titeln wie „a different kind of jungle“ oder „none such music“.
Wir konnten uns am Tresen stundenlang die Bälle zuspielen und uns trefflich streiten, ob „Their Satanic Majestic Request“ von den Stones ein schlimmer Unfall in der Bandgeschichte war oder ein fehlgeschlagener Versuch, an „Sergeant Pepper anzudocken“. Du ließest Dir deine Tapes zumeist in Naturalien auszahlen, ein guter Deal für beide. Ich glaube, zu meinem 60. brachtest du mir ein „Ständchen“, auf You Tube verewigt, das mich als den Keith Richard vom Ostertor überhöhte.
In den letzten Jahren, nachdem ich das Brazil aufgegeben hatte, verlagerte sich unsere Kommunikation mehr auf die social media, anfangs im Viertel-Blog, dann auf den Zuckerberg. Wir waren nicht immer einer Meinung, jedoch meistens, besonders wenn es um Literatur ging.
Ihren Roman „Höhere Welten“ hab ich noch irgendwo im Regal, er hat mich damals nicht besonders angesprochen, vielleicht muss ich ihn noch mal lesen. Jedoch hätte ich gern etwas von ihrem nächsten Roman zu Gesicht bekommen, da hielt sie sich aber sehr bedeckt. Was mir noch einfällt, ich hätte sie gerne in einer Literatursendung erlebt, sie hätte sicher so manches Quartett aufgemischt? Good By…my Dear… thank you for the music… es wird leerer im Viertel.
Jürgen Schierholz
Als ich in der Horner Straße wohnte, fuhr Hella oft mit ihrem großen schwarzen Fahrrad an mir vorbei. Keine Zeit innezuhalten. In Eile und ein wenig außer Atem rief sie ein kratziges „Haallo!“ zu mir herüber. Ein herzliches, gut gemeintes Hallo. Für einen Augenblick kamen mir dann alte Zeiten in den Sinn. Ich dachte daran, wie Hella Anja und mich überredete, als Engel an einer antikapitalistischen Weihnachtsaufführung teilzunehmen. Dachte an die Jahre, als man noch bei Meister Proppers Poetry Slam aus der Falle rollte, um aus der Rolle zu fallen. Die hellen Augen ganz weit aufgerissen – dachte an aufgekratzte Meinungsbekundungen, die ehrlich und direkt waren. Heute vermisse ich oftmals diese Art von Menschen, die eben nicht aus Gründen der Korrektheit, um nicht anzuecken oder um unantastbar zu bleiben, drei Mal überlegen, ehe sie einen Konjunktiv formulieren. Ein weiteres Original aus dem Bremer Viertel ist gegangen, nimmt ein Stück Vertrautheit mit sich. Hella, ich werde dich vermissen.
Janine Lancker
Hella Streicher — in memoriam
Hella Streicher war ein Original — nicht zu übersehen -
vorzugsweise mit Pudelmütze und Rucksack -
nicht zu überhören — mit ihren vorlauten Kommentaren
und noch besser — mit Gitarre und Gesang.
Ihre Bekanntschaft war ein positives Erlebnis — sie war so vielseitig
begabt — auch als Fotografin — dass jede Begegnung mit ihr
interessant war.
Ein zufälliges Treffen an der Contrescarpe führte zum intensiven
Gespräch bei Kaffee und Kuchen (und natürlich Zigarette) und
für mich bereichernde Gedanken auf dem Heimweg. Danke dafür!
Mein Wunsch für Hella -
möge sie ihre höheren Welten erreichen!
Lauma Zvidrina
Wenn ich an Hella Streicher denke, dann höre ich sie. Ihre Stimme, impulsiv, insistierend, rückhaltlos, ungeschützt ihre eigene Meinung kundtun, impulsiv, emotionsgeladen. Wütend auf alles, was einschränkt, vorschreibt, vorgibt, etwas zu sein, ihr Gespür für das Unechte, Aufgesetzte, Aufgeblähte, auf selbsternannte Vorschreiber und Vorschriften.
Wenn ich an Hella Streicher denke, höre ich sie auf der Trommel schlagen, lachen, den Rhythmus halten oder ihre eigenen Texte sprechen, mehrdeutig, hintergründig, aufbegehrend, aufbrechend, frech, vorwitzig, wortwitzig.
Oder ihre Gedichte, Langgedichte, eher melancholisch über Novembernebel und Lebensfreude im November. Und immer auch über sich selbst als Autorin, als Arbeiterin mit der Sprache, unbeirrt und genau, so wie sie auch fremde Texte lektoriert hat, rückhaltlos, rücksichtslos gegen sich selbst und andere. Rigoros mit ihrem Urteil, nicht berechnend, nicht kalkulierend, unvernünftig, beharrlich.
Und sie konnte auch schmeicheln, liebenswürdig sein, bittend um Anerkennung, Zugehörigkeit, Akzeptanz, aufgenommen werden, angenommen werden, ankommen, Sein.
Inge Buck
Schwer atmend war sie, stets hell wach und nah. In den Gesprächen hielten sich Spielerisches und Ernstes die Waage.
Sie hörte genau zu, hielt einen Augenblick inne – und dann hatte man mit ihrer Entgegnung das Gefühl, ins Herz geschlossen zu werden.
Falsche Freundlichkeit kannte sie nicht. Ich machte mir oft Sorgen. Um sie
Martin Bührig
Hella litt lebenslang unter ihrer familiären Herkunft, lebte ihr Leben als einziges Enkelkind von JULIUS STREICHER, Herausgeber des STÜRMER und während der Nürnberger Prozesse angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Bis zuletzt ist/war sie allein im Besitz des (vor allem schriftlichen) Nachlasses ihres Großvaters. Einerseits war sie stolz darauf, Intelligenz und Talent ihres Großvaters geerbt zu haben, anderseits litt sie darunter, ihn nicht lieben zu können (zu dürfen).
Schon in der Schule, erzählte sie mir, durfte sie nicht bei den Anderen sitzen, sondern, von ihnen getrennt, ganz hinten abseits auf einem Einzelplatz — aufgrund ihrer familiären Herkunft, jedenfalls deutete sie das für sich so. Dass sie nach ihrem erfolgreichen Studium keine Lehramtsstelle finden konnte, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Bis auf die letzten Jahre, wo sie als Deutschlehrerin für Immigranten eingesetzt wurde und die frühen Jahre in einer Buchhandlung, lebte sie von HARTZ IV.
Auch unter den Bremer Autor*innen galt sie mehr oder weniger als Enfant terrible, wurde nicht allzu ernst genommen, blieb auf ihrer Klugheit sitzen.
Situationsbedingt bat ich im Jahre 2014 die kluge Hella um ihre Hilfe bei der Veröffentlichung meines Gedichtbandes UND DER SCHATTEN SANG; sie ist im Impressum für das Lektorat ausgewiesen. Nach einigem Zögern willigte sie ein: „Aber nur unter meinen Bedingungen: ausschließlich per Telefon, keine Diskussionen, keine Privatgespräche, keinerlei Ablenkungen – nur der jeweilige Text!“
Nun, glücklicherweise blieb der Großteil der Gedichte unbeanstandet. Aber der Rest hatte es in sich; meist kleine Sachen, ein Wort, eine Zeile: „Das kannst du besser!“ — „Was willst/wolltest du sagen?“ — „Nein, von mir kommt kein Vorschlag, das kannst du ganz alleine — ich lege jetzt den Hörer auf die Seite, frei geschaltet, laut gestellt — und du überlegst dir inzwischen, was du hier eigentlich sagen/schreiben wolltest/willst.“
Das ganze Prozedere war eine einzige Tortur. Aber am Ende hatte ich mein Buch irgendwie ganz und gar selbst lektoriert.
Siegfried Marquardt
3 Menschen, 2 Zigaretten, 1 Laibachkrawatte.
Erste Worte, zweite Begegnungen, dritte Besuche.
In Höhere Welten,
hinein in tiefen Ernst
führst du uns über Grenzen hinweg
getragen von Klang und Rhythmus.
Musik ist es, die alles verbindet.
“Doch der Abend wirft ein Tuch aufs Land…”, höre ich nun in meinen Gedanken.
Mein Blick wandert in Weite wie Flügelschlag, es riecht nach Rauch.
Danke, Helli.
Viola Bauer
Auf einmal fort. Verschwunden von der Straße, von der Ecke, vor dem Tabakladen, wo man sich traf, flüchtige Begegnungen: Wie geht es dir? Vor mehr als ein paar Jahren zum letzten Mal. Auf einmal nicht mehr aufgetaucht auf Lesungen, Autorentreffen, bei literarischen Veranstaltungen. Und nie nachgefragt. Auch vor dem Verschwinden schon verschwunden. Und eigentlich nie so richtig da gewesen. Lautlos wie die Schmetterlinge, die sterben jetzt…
Marlis Thiel
Hella, Helli.
Geborene Streicher. Tochter einer Mutter, Tochter eines Vaters.
Enkelin eines Großvaters.
Diese Menschen waren ihr geschenkt und ihr erwählt.
Die anderen die hier sind oder hier sein wollen hat sie gewonnen.
Für sich.
Generalsekretärin des ZK ihres Geistes, Kapellmeisterin der Kathedrale ihres Herzens.
Scharfer Verstand, Hella Kopf.
Zu spitz und licht um sie lehren zu lassen.
Jüngerin des Rhythmus, Prophetin der Melodie.
Zum Gebet vor dem Loewe Opta Altar.
Kritikerin ihrer Zeit. Jeder Zeit.
Maßstab der guten Sitten.
Wächterin des tiefen Respekts.
Jede Politik zerbrach daran.
Jede Ideologie im Suchscheinwerfer entdeckt, erkannt und laufen gelassen.
Kein Schuss ist je gefallen
Den Rhythmus mit dem Taktstock geschlagen auf Häute, Becken und Hinterköpfe.
Gesungen und hinter Buchrücken in Buchseiten geschrien.
Zärtlich den Tabak gerollt, Asche fiel.
Freundin aus der Ferne, verhüllt im blauen Rauch.
Geschrieben, Zeile für Zeile, Seite um Seite.
Für sich, für mich, für euch.
Kaum einer hat gezahlt.
Gehofft auf göttliche Fülle, getragen von menschlicher Hoffnung.
Gütig und wütend, verharrend und schaffend.
Ein Mensch der Teil von meinem Menschen wurde.
Im vorbeigehen, im Augenwinkel, zwischen Türen und Angeln.
Angst vor dem Ende, dem einsamen Ende. Reduzierte Einsamkeit gelebt.
Mir ist, als könnt ich wieder glauben, an wachende Augen, an wohl wollen und Lächeln.
Du schaust zwischen uns und die Liebe, die du leben konntest, lebt nun zwischen unseren Herzen.
Folkert Lunz