#1 Harm
er brauchte keinen wecker
noch nie
da waren die sonnenstrahlen und das muhen aus dem stall
das durch das offene fenster drang
und wie jeden tag neues hemd latzhose stiefel raus
leichter nieselregen
trotzdem oder vielleicht genau deswegen
der erste geruch von frühling
gestern abend waren da die ersten insekten
nach dem frost
die vor dem rostigen stallfenster schwebten
die ersten knospen hatte er letzte woche schon gesehen
beim rundgang durch den obstgarten
der seinen hof im westen abschloss
die wärme im stall nach dem öffnen der holztür
schlug ihm entgegen
wie eine feste umarmung
berta ulrike ingeborg berta-zwei und frida
standen nebeneinander aufgereiht und schnaubten ihm
ihren feuchten grasigen atem entgegen
als er die tür zur wiese öffnete
piekste etwas in seinem herz
wie jeden morgen
normalerweise kurze euphorie die kleine herde so glücklich
davonlaufen zu sehen
durch den letzten wintermatsch in die grüne weide
heute war der pieks schmerzhaft
er wusste auf einmal wieder welcher tag heute war
Nele Miesner wurde 2000 geboren und ist in Grasberg bei Bremen aufgewachsen. Nach einem Studium der Weltliteratur in Göttingen hat sie ihren Master in Transnationaler Literaturwissenschaft an der Universität Bremen absolviert und währenddessen an zahlreichen Schreibseminaren teilgenommen. Erste Texte hat sie im digitalen Literaturmagazin Bremen und im Rahmen des Bremer Literaturwettbewerbs 2023 in der Anthologie „Treffpunkt Freimarkt“ (Kellner Verlag) veröffentlicht. 2024 hat sie gemeinsam mit Leyla Bektaş einen Letter to the Youth für die Jahreshauptversammlung des UNESCO Creative Cities Netzwerkes verfasst.
Begründung der Jury
Nachwuchsstipendium
In ihrem Prosaprojekt „Moorlinsen“ erzählt Nele Miesner die ungewöhnliche Freundschaftsgeschichte von der 17-jährigen Schülerin Alma und dem Milchbauern Harm, der vom Alter her ihr Großvater sein könnte. Beide leben zu Beginn der 2030er Jahre in einem fiktiven norddeutschen Landschaftsschutzgebiet, dessen scheinbare Idylle von einem Autobahnbauprojekt bedroht wird. Mit großen Einfühlungsvermögen zeichnet Miesner zwei glaubhafte Hauptcharaktere, die einem sogleich vertraut vorkommen und rasch ans Herz wachsen. Mit viel Gefühl und Geschick verknüpft sie dabei eine vielschichtige Familiengeschichte mit der Geschichte der bedrohten Moorlandschaft und verbindet dabei gekonnt verdrängte Konflikte der Vergangenheit mit gegenwärtigen und zukünftigen Bedrohungen wie Umweltzerstörung und Klimawandel. Für die zwei unterschiedlichen Erzählperspektiven findet sie jeweils den passenden Ton und eine insgesamt sehr dichte, präzise und zugleich poetische Sprache, die beim Lesen einen unmittelbaren Sog ausübt.
Zur Jury 2024 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Annette Freudling (Freie Autorin/Journalistin & Vorstand Bremer Literaturkontor), Axel Stiehler (Geschäftsleitung Buchhandlung Logbuch & Blaukontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Mitarbeiterin virt. Literaturhaus), Jörg Isermeyer (Freier Autor & Stipendiat 2022) und Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).