Mutter nahm mir den Bogen Papier weg, bevor ich ihn zerstören konnte und hielt das Bild hoch. Sie nahm mir auch den Bleistift aus der Hand, legte den Kopf zur Seite, lächelte. Sie nahm den Stift und legte ihn auf das Naturkundebuch, auf die Abbildung des Rotkehlchens, nahm den Stift als Längenmaß. Und richtig, der Vogelkörper, den ich gezeichnet hatte, war zu lang, die Proportionen stimmten nicht. Sie legte das Blatt auf den Tisch und gab mir das Radiergummi. Dann setze sie sich wieder auf den Platz mir gegenüber, um weiter an den Enten auf dem Porzellanteller zu arbeiten. Sie benutze dafür einen feinen Pinsel und hatte eine Glasplatte vor sich liegen, auf der sie die Farben mischte.
Ich musste mich entscheiden, ob ich den oberen oder unteren Teil des Rotkehlchens wegradieren wollte. Der Radiergummi raute das Papier auf und von den bereits gezeichneten Füßen blieb ein Schatten. Als ich den Stift erneut ansetze, hinterließ er auf dem aufgerauten Papier einen intensivieren Strich. Man sah die Korrektur, man sah den Fehler.
Mutter konzentrierte sich auf die Enten. Ihre Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden. Sie bewegte den Unterkiefer langsam, fast unmerklich, was sie immer tat, wenn sie sich konzentrierte. Sie tauchte den Pinsel in ein Wasserglas, strich ihn ab, tupfte ihn auf einem Tuch und vermischte das Grün weiter hin zu Gelb. Sie sah hoch, sah mich innehalten, sah, dass ich aufgegeben hatte, sah es in meinem Gesicht. Sie schüttelte den Kopf.
„Talent alleine reicht nicht“, sagte sie.
Sie schaute auf ihren Teller, auf die Enten, das Eichenlaub, das die Szene einfasste.
Auf dem Tisch stand die Wasserkaraffe aus Glas, in die Mutter bunte Steine gefüllt hatte. Auf einem Teller daneben lagen Kekse mit Haferflocken und Rosinen.
„Nicht aufgeben“, sagte sie und schob den Teller mit den Keksen ein wenig in meine Richtung.
Ich wollte nicht aufgeben, ich wollte ein neues Stück Papier. Aber Mutter beharrte darauf, dass ich es wirklich versuchte.
„Nur weil es schwierig wird, solltest du nicht sofort alles hinschmeißen Eila. Konzentrier dich und versuche es weiter, du wirst schon sehen.“
Also zog ich den Bogen wieder zu mir und zeichnete mit vorsichtigen Strichen. Mutters Stimme in meinem Kopf. Die Konturen müssen deutlicher und dunkler sein, ein Kontrast aus hell und dunkel, der den Körper einrahmt.
Sarah von Lüttichau wurde 1984 in Eckernförde geboren und wuchs am Ende der längsten Sackgasse Schleswig-Holsteins auf. Nach einer Ausbildung als Grafikdesignerin und einem Studium der Wirtschaftskommunikation in Berlin, studiert sie seit 2021 Literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Hildesheim. Sie hat bereits in renommierten Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Zuletzt erschienen Texte von ihr in der Schweizer Zeitschrift mosaik (Ausgabe 39) und im österreichischen Magazin Das Narr (Nr. 39). Im Rahmen der Campus SCHREIB Kultur durfte sie 2023 ein Dorf in Brandenburg literarisch erkunden und ist seit 2024 Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens am Literaturhaus München. Seit 2022 lebt sie in Bremen und arbeitet an ihrem ersten Roman.
Begründung der Jury
Projektstipendium
Ins Zentrum ihres Romanprojekts „Was wir nicht sagten“ stellt Sarah von Lüttichau die 10-jährige Icherzählerin Eila, die mit dem überfordernden Gefühl aufwächst, sich um ihre eigenwillige Mutter kümmern zu müssen. Als sie mit dem frühen Krebstod ihrer Mutter konfrontiert wird und sie von nun an bei ihren Großeltern aufwächst, verstärkt sich ihre Einsamkeit und mündet immer wieder in selbstverletzendem Verhalten. Mit einer starken Erzählstimme schildert von Lüttichau sich fortsetzende Generationskonflikte und Familienverhältnisse, die von Traumata geprägt sind. In einer klaren Sprache, die punktuell poetische Bilder sehr gezielt und gut platziert setzt, erzählt die Autorin glaubhaft von der Gedanken- und Gefühlswelt einer 10-Jährigen, die ihrer Überforderung und den Zumutungen des Lebens nur mit Flucht in die Fantasie oder Gewalt gegen sich und andere zu begegnen weiß. Bei aller Schwere der Thematik gelingt es von Lüttichau mit Sätzen und Formulierungen, die aufleuchten und hängen bleiben, nicht nur zu berühren, sondern auch Hoffnung aufkeimen zu lassen.
Zur Jury 2024 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Annette Freudling (Freie Autorin/Journalistin & Vorstand Bremer Literaturkontor), Axel Stiehler (Geschäftsleitung Buchhandlung Logbuch & Blaukontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Mitarbeiterin virt. Literaturhaus), Jörg Isermeyer (Freier Autor & Stipendiat 2022) und Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).