I
Onkel Henning räumte. Er streckte seine groben Hände in die Regale der Vergangenheit, staubige dunkle Ecken. Schau, sagte er. Ich sah rüber, in seiner Hand eine Elefantenfamilie aus Porzellan. Henning verkaufte jeden Sonntag seinen Hausstand aus der Garage heraus. Seit Weihnachten machte er das. Tante Marmi starb, ohne ein Geräusch. Es war lautlos im Haus. Wir saßen neben ihr am Bett. Ich hatte mir den Tod immer als etwas Lautes vorgestellt. An diesem Abend ging sie, leise. Zusammen mit meiner kleinen Schwester bin ich in diesem Haus aufgewachsen. Marmi war für uns wie eine Mutter.
Als ich von Tante Marmis Krankheit erfuhr, war es sicher. Ich würde zurückgehen in den kleinen Ort nahe der Küste. Marmi hieß eigentlich Margarethe. Als wir Kleinkinder waren, haben wir aus Mami und Margarethe den Kosenamen Marmi geformt und sie fortan so genannt. Unsere Eltern starben, als wir noch zu jung waren, um den Tod zu begreifen. Ich weiß nicht, wie laut ihr Tod war, wir waren nicht bei ihnen. Ich weiß nur, ihre Stimmen wurden leiser, jedes Jahr. Zu den Gesichtern in meiner Erinnerung gab es keinen Ton mehr. Am Todestag unserer Eltern verstand ich nichts und spürte alles.
Henning wünschte sich, dass ich blieb. Also suchte ich nach freien Ladengeschäften in der Umgebung. Es war Nebensaison, kleine Geschäfte standen oft zur Verfügung und warteten darauf in der Hauptsaison angemietet zu werden. Schnell fand ich passende Räume, rief meine Schwester an. Es gab einen Ausstellungs- und Verkaufsraum, eine Werkstatt und zwei Parkplätze. Noch in der gleichen Woche unterschrieben wir den Mietvertrag.
Laura Heimann, geboren 1988 in Soltau, zog im Januar 2022 von Berlin nach Bremen, um dem Norden, der Familie und Freund*innen wieder näher zu sein. Von 2016 bis 2020 studierte sie Deutsche Literatur an der Humboldt Universität in Berlin. Sie schreibt Lyrik und Prosa und hat bereits Texte in unterschiedlichen Literaturzeitschriften der D-A-CH Region veröffentlicht.
Begründung der Jury
Nachwuchsstipendium
In ihrem Romanprojekt „Vorbilder“ widmet sich Laura Heimann auf verschiedenen Ebenen dem Thema Trauer. Ihre Ich-Erzählerin Clara muss gemeinsam mit ihrer Schwester Thea den Verlust ihrer geliebten Tante Marmi bewältigen, bei der die beiden Geschwister nach dem Tod ihrer Eltern aufgewachsen sind. Zurück im Dorf ihrer Kindheit versucht Clara ihren Onkel Henning zu unterstützen und zugleich die eigene Trauer zu verarbeiten. Heimann entfaltet diese Geschichte mit viel Sprachgefühl und einem genauen Blick für das Zwischenmenschliche und ihre fein gezeichneten Figuren, die direkt greifbar und lebendig werden beim Lesen. Den Themen Verlust und Trauer nähert sie sich dabei ohne Pathos, aber mit sehr viel Empathie. Die Jury hat dabei vor allem überzeugt, wie die Autorin für ihre Erzählung unmittelbar einen eigenen Ton gefunden hat, der sprachlich durchgehend überzeugt und die Leser*innen von der ersten Seite an in seinen Bann zu ziehen vermag.
Zur Jury 2024 gehören Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Annette Freudling (Freie Autorin/Journalistin & Vorstand Bremer Literaturkontor), Axel Stiehler (Geschäftsleitung Buchhandlung Logbuch & Blaukontor), Annika Depping (Redakteurin Literaturmagazin Bremen & Mitarbeiterin virt. Literaturhaus), Jörg Isermeyer (Freier Autor & Stipendiat 2022) und Donka Dimova (Freie Autorin & Stipendiatin 2022).