SoSe 2023 – „OUT OF THE BOX – Experimentelles Erzählen in Worten und Bildern“ – mit Anke Bär
In dem viertägigen Kompaktseminar erprobten die Teilnehmenden vielfältige Zugänge im Hinblick auf ein experimentelles Erzählen in Texten und Illustrationen. Dabei stand jeder der vier Tage unter einem eigenen Thema und auch die im Zusammenhang damit in den Fokus genommenen Textsorten und gestalterischen Werkzeuge und Techniken variierten von Tag zu Tag.
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Der Trauerschwan.
Sagenumwobener Vogel,
ich kenne dich bereits in reinweiß
mit Engelsflügeln -
So füllst du Mythen und Märchen
über Unschuld und Anmut
in vielen Kulturen.
Doch hier und heute
trägst du dein schwarzes Federkleid.
Gleitest mit gesenktem Kopf
über stilles Wasser
von der Anmut nichts verloren
ziehst du leise
Trauerkreise.
Trauerschwan -
welch schweren Namen
musst du tragen
für uns.
Trauerst du um die Liebe?
Man erzählt, Schwäne seien einehig.
Wenige Wesen im Tierreich
hängen ihr Herz an nur eines im Leben
und verlieren es dadurch -
weil es zu schwer werden kann.
Trauerst du um den Tod?
Wohl eher um das Leben,
das dir durch die Federn gleitet,
während du angstvoll
in Vergangenheit oder Zukunft schaust -
oder nur starr
auf die Oberfläche.
Sagenumwobener Vogel,
du gefällst mir auch in schwarz
Denn Trauer ist doch eigentlich
Weisheit und Liebe
im schwarzen Kleid,
mit engem Korsett,
das du erhaben
tragen kannst,
bis dir die Luft wegbleibt.
Denn Trauer ist eine Landschaft,
in der du wandern kannst,
und irgendwann
gehst du nach Hause
und wärmst dich am Kamin.
Der Schwan
Im Ballett ist der Schwan eine grazile Figur, anmutig, ein Idealbild der schwerelosen Tänzerin. Im Kontrast dazu steht Hans Christian Andersens hässliche Entlein, das eigentlich ein Schwan ist, als junges jedoch fälschlicherweise bei den Enten landet und dort für seine Andersartigkeit und Hässlichkeit geärgert wird.
Schwäne sind sich treu. Schwäne treiben voller Ruhe und Würde durch die Kanäle der Stadt. Schwäne verteidigen ihre Jungen erbarmungslos und präsentieren ihre Größe, Stärke und Schnelligkeit, wenn die Menschen ihnen oder ihrem Nest zu nahe kommen.
Schwäne sind ein Motiv — für Treue? Oder Liebe? Schwäne sind nicht niedlich, sondern schön. Sie sind auch nicht lieb.
Nicht zum Streicheln, nur zum Anschauen, mit genügend Distanz.
Eselaugen
“Wer bist Du?”, frage ich den Esel.
Esel ist noch klein. Nicht ausgewachsen und trotzdem so fit auf den Beinen, dass jedes Kleinkind neidisch wäre. Ich bin es auch ein bisschen. Auf dem Rücken trägt es bereits das Kreuz. Die Kennung der Abstammung. Dass jede Person weiß, wer Esel ist. Nämlich kein Pferd. Keine Kuh. Kein Schaf. Zumindest sagt das Kreuz das.
“Wer bist Du?”, frage ich erneut.
Die Hufe im Gras versunken sieht es mich an.
“Esel”, sagt Esel.
“Gut”, sage ich. Es ist gut zu wissen, wer man ist.
Esel und ich sehen uns an. Unsere Augen blicken einander in die Seele. Ich denke daran zurück, wie ich sturer Esel genannt wurde. Dumme Kuh. Blöde Ziege.
Ob Esel schon einmal Mensch genannt wurde? Dummer Mensch? Unsicherer Mensch?
Verlorener Mensch?
“Wer bist Du?”, fragt mich Esel.
Ich zucke mit den Schultern. Das weiß ich nicht genau.
Weiß meinen Namen, meinen Beruf, meine Hobbys. All das weiß ich.
“Ich glaub, du bist Mensch”, sagt Esel.
Ich nicke.
Ich bin Mensch.
Du bist Esel.
Wir sind wir.
Wer bist du kleiner Wüstenfuchs?
Wer bist du? Du bist klein und süß. Und du scheinst müde zu sein, wenn man nach deinen halb geschlossenen Augen und der Art, wie du deine Pfoten von dir streckst, urteilt. Aber das sind nur Äußerlichkeiten, nur Dinge, die das Bild von dir preisgibt. Also, wer bist du? Bist du in freier Wildbahn aufgewachsen oder in einem Zoo? Hast du Geschwister? Wenn ja, wie viele sind es? Auf dem Bild siehst du entspannt aus, scheinst also in Sicherheit zu sein. Aber bist du wirklich in Sicherheit? Oder zerstören wir Menschen dein Zuhause, deinen Lebensraum? In welchem Land lebst du wohl? Ist es das Land in dem deine Vorfahren gelebt haben, oder ein ganz anderes? Ich weiß, dass Wüstenfüchse in Afrika beheimatet sind, also bist du an ein warmes Klima gewöhnt. Das warme Klima erklärt auch deine großen Ohren. Über sie gibst du Wärme ab. Aber brauchst du diese großen Ohren an dem Ort, wo du jetzt lebst? Oder sind sie nur zu dem Zweck da, uns Menschen zu gefallen? Damit wir stehen bleiben und dich als süß empfinden? Wie sieht deine Beziehung zu Menschen überhaupt aus? Hast du Angst vor uns, oder wirst du von Menschen gefüttert und gepflegt? Lässt du dich vielleicht sogar von Menschen streicheln und freust dich, wenn Menschen kommen und dich füttern? Oder ergreifst du die Flucht, sobald du menschliche Schritte auf den Boden donnern hörst? Lebst du noch mit anderen Wüstenfüchsen zusammen oder alleine? Hast du einen Lieblingsspielgefährten? Wie sieht ein typischer Tag für dich aus? Gehst du auf die Jagd, oder versorgen wir Menschen dich mit Nahrung? Musst du dich Tag für Tag von Menschen begaffen lassen, die an deinem Gehege stehen bleiben, auf dich zeigen und zu ihren Nachbarn sagen: »Ist der nicht süß?«, oder bist du frei, dorthin zu gehen, wohin du möchtest, nicht begleitet von menschlichen Blicken? All das sind Fragen, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich das Bild von dir ansehe. Ich kann die Fragen aber nicht beantworten. Deshalb frage ich mich weiterhin: Wer bist du kleiner Wüstenfuchs?
Bär, wer bist du?
Im Sternenschein wandelnd, querwaldein, knacke ich links, knacke ich rechts, knackt es fremd.
Viermal, gefolgt von einem gemütlichen Schnauben, gerade zwei Astlängen voraus – ein Waldwesen, die schwarzen Augen leise funkelnd. Beidseitiges Innehalten vor dieser, unserer nachtaktiven Begegnung. Dann, meinen Geist als gleichartig erkennend, träumen wir ein Gespräch über den Duft der Erde. Bevor der Bär seine eigene Wandelung fortsetzt, blitzt ein Stern im Fall.
Wir teilen einen Wunsch wie Tee.