Werkstattheft MiniLit Nr. 6 - mit Janine Lancker
Während der Werkstatt ›An Bord — ÜberLeben von A nach B‹ sind folgende Texte entstanden, die in einem Werkstattheft unserer Reihe MiniLit (Nr. 6) veröffentlicht wurden.
Blätterfall
Kälte. Kaltes Meer an das Boot schlägt. Kalte Luft meine Haut peitscht. Fest zusammengeschnürt den Stoff um mich gehüllt, wasserabweisend, doch nicht resistent. Alles ist Kälte. Ich versuche, langsamer zu atmen. Die Kälte gelangt in einem Sog in meine Lunge und packt sie, umhüllt sie mit eisigem Schauer. Atemzug um Atemzug breitet sie sich aus und will nicht mehr entweichen.
Ich muss die Luft anhalten, die Kälte abschütteln. Sie wird mein Tod sein. Nicht in den Fluten ertrinken. Nicht durch Hunger oder Trinkwassernot wird das Leben ein Ende nehmen. Ich halte die Luft an, Energie sparen. Lausche dem Meer, welches ich nicht mehr ertragen kann. Es ist kein Lauschen, schon lange nicht mehr. Ich bin dem ausgesetzt, ausgeliefert. Das permanente Geräusch des Meeres dröhnt in meinen Ohren.
30 Sekunden sind verstrichen oder schon mehr. Zähle ich zu langsam oder zu schnell. Das Dröhnen. Ich nehme einen Atemzug und öffne dabei die Augen. Ein Blatt, es fällt vom Himmel. Es wird still um mich. Und noch eins! Ich kann das Meer nicht mehr hören. Kein Geräusch. Frost weicht Wärme. Ich will schreien, rufen, meinen Kameraden die Blätter zeigen. Die Kameraden, lange habe ich schon nicht mehr an sie gedacht. Ich musste Energie sparen. Schon seit Tagen beachte ich sie nicht mehr, die neben mir stehen. Einer steht vor mir, vier oder fünf auf der rechten und zwei auf der linken Seite. Es ist einerlei, welchen Platz ein Mensch in diesem Boot einnimmt. Doch jetzt möchte ich rufen: „Hört hin, der Lärm, ja der Lärm, ich höre ihn nicht. Fühlt, atmet, die Kälte ist vergangen.“
Ich könnte in das Meer springen, die Blätter mit den Händen greifen. Sie aus dem Meer fischen und keine Kälte würde ich spüren. Es wäre nicht mal bedenklich oder gar todesmutig. Das Meer hat sich auf meine, auf unsere Seite gestellt. Die Kälte und den Lärm mitgenommen. Kann das sein?
Blätter fallen vom Himmel, wahrhaftig, mitten auf dem Meer. Kein Wald, kein einziger Baum steht in der Nähe. Meine Kameraden haben die Augen verschlossen. Ich sollte sie wecken, aber vielleicht fallen die Blätter dann schneller ins Meer oder das Ereignis entflieht innerhalb einer Sekunde und die Kälte kehrt zurück. Vielleicht darf nur ich dieses Spektakel erleben. Wie in Zeitlupe fallen die Blätter, langsam, langsamer, noch langsamer. Ich atme. Wärme durchströmt mich. Hitze.
Nein! Ich werde niemanden rufen. Dies ist mein Erlebnis. Das sind meine Blätter. Ich versuche, keinen Laut von mir zu geben und langsam zu atmen. Wie wunderschön die Blätter sind. Eins kann ich doch greifen. Langsam den Arm strecken, leise, noch leiser und zugreifen. Meine Blätter. Der linke Kamerad öffnet die Augen. Verflixt, ich war zu laut. Er lächelt und ruft: „Schaut, Blätter fallen vom Himmel.“ Da öffnen alle Kameraden die Augen. Kein weiteres Blatt fällt mehr vom Himmel. Ich atme kalte Meeresluft ein. Vielleicht stürze ich mich auf den Kameraden. Vielleicht schließe ich die Augen und werde sie nie wieder öffnen. Vielleicht springe ich ins Meer. Langsam schließe ich die Augen. Kälte.
An Bord eines Raumschiffs
I
Ich stehe an der Reling im Wind, im Wiiiind. Ich konzentriere mich auf das Gefühl, wie er über meine Haut streicht, mich leicht frösteln lässt. Ich will es speichern, einpacken, mitnehmen. Ich werde es vielleicht nie wieder spüren. Mein Bauch beginnt zu grummeln, nicht vor Hunger, es ist diese verwirrende Mischung aus Aufregung, Ungeduld und Angst. Was wird mich erwarten?
Mein Abschied ist unter dem Mantel dieser Gefühle an mir vorbeigezogen. Als sie mich in die Arme schlossen und mir „Viel Glück!“ wünschten. Die Kollegen aus dem Labor, die meinten: „Wieso ausgerechnet du und nicht ich?“ Meine Eltern, die mir eigentlich sagen wollten: „Warum machst du das? Wir brauchen dich hier.“
Ich muss es tun, seinetwegen. Ich wusste es in dem Augenblick, als ich die Ausschreibung sah. Kein Moment des Zweifelns. Auch jetzt nicht, da ich das Raumschiff vor mir sehe und alles zum Greifen nah ist.
Es war sein Traum. Er hatte von nichts anderem mehr gesprochen und mir zu Weihnachten ein Teleskop überreicht. „Siehst du, das hier ist die Erde.“ Er zeigte auf unsere Füße: „Da sind wir jetzt.“ Dann drehte er am Objektiv des Fernrohrs: „Und wenn ich mal nicht mehr bin, dann treibe ich irgendwo dort draußen umher.“
Worte, die sich in mein kleines Gehirn einbrannten.
„Er ist nicht mehr ganz richtig im Kopf“, hatten meine Eltern gesagt. Und jetzt dachten sie dasselbe über mich.
Entschlossen wende ich mich um und gehe hinein, um auf den Morgen zu warten, auf den Abflug, auf den Moment, in dem sich alles umkehrt und mein Himmel nicht mehr blau ist, sondern tiefschwarz und voller greifbarer, funkelnder Möglichkeiten.
II
Klicken, Rauschen. Die Knöpfe blinken in meinen Augenwinkeln. Ganz wild, ganz rot. Ein schlechtes Zeichen? Geht irgendwas schief? Etwas drückt auf mich, die Tonnen Metall um mich herum bewegen sich. Es ruckt und wackelt. Ich kippe zur Seite, sehe die Schemen der anderen vorbeiziehen. Was, wenn ich falle … was, wenn ich mich verletze … wenn … Mein Magen stürzt ab, wie in diesen High-Speed-Aufzügen. Ich klammere mich an den Sitz und meine Fingerknöchel werden weiß. Ich sehe kein Draußen. Ich spüre, wie wir an Höhe gewinnen, aber ich sehe es nicht. Meine Gedanken entwischen mir, ich fühle den Druck auf meinen Schläfen, sehe das Augenpaar mir gegenüber, weit aufgerissen, und frage mich, wie ich selbst aussehe. Auf meinem Sitz gekauert. Wir sind jetzt Schatten. Erstarrte Silhouetten inmitten von roten Blinklichtern.
III
Ich schwebe zu einem der Sessel und lasse mich darauf nieder. Die anderen sind in Bücher vertieft oder in einem anderen Teil des Raumschiffs unterwegs. Sie haben aufgehört, täglich Videobotschaften zu senden. Ich habe noch keine einzige verschickt.
Die anfängliche Begeisterung über die Schwerelosigkeit hat nachgelassen, die regelmäßigen Zusammenstöße in der Luft auch. Jetzt vergeht die Zeit zäh, wie in einem endlosen Zustand.
Wir sind zu viert. Maggie ist sehr ruhig, sie sitzt meistens am Fenster, aber wenn sie sich doch ins Gespräch einmischt, funkeln ihre Augen vor Vorfreude und ihre ruhige Stimme bringt alle zum Zuhören und Träumen. Ben hingegen ist immer aufgekratzt, unruhig, er kann das Warten am wenigsten ertragen und bringt uns mit seinen Witzen und seiner Unruhe entweder zum Lachen oder treibt uns zur Weißglut. Nur Linda bringt ihn manchmal zum Schweigen, wenn sie sich durch ihre glänzenden Haare streicht und ihn abschätzig anblickt. Noch schaut sie auf uns alle herab, aber wenn ihr endgültig bewusst werden wird, dass es nur uns vier gibt und die Zuschauer vor dem Fernseher nichts für sie tun können, wird sie von ihrem hohen Ross heruntersteigen müssen. Ich halte mich meistens raus. Ich muss meine Position erst noch finden und werde bis dahin beobachten.
IV
Wir befinden uns nun in einem seltsamen Zwischenraum, in dem wir nicht so recht aufeinander zukommen. Über unsere Erinnerungen, denen wir nachhängen oder von denen wir uns langsam zu lösen versuchen, wollen wir nicht gerne sprechen. Nur manchmal brechen Hoffnungsschimmer aus dem einen oder anderen heraus. Wir geraten ins Schwärmen, überlegen, wie es wohl sein wird. Maggie dreht sich dann zu uns um und malt die Zukunft in den buntesten Farben. Sie blickt dabei oft zu mir herüber und ich fühle mich unwohl und geschmeichelt zugleich, da sie mich anscheinend als Teil dieser Zukunft akzeptiert hat.
Jedes Mal gelangen wir irgendwann an den Punkt, an dem Ben stöhnt: „Wären wir doch endlich da.“ Danach herrscht wieder Schweigen, und wir kehren zu unseren Beschäftigungen zurück – als wäre nichts geschehen.
Mars One
I
Mir scheint, so weich wie heute war das Fell hinter deinen Ohren noch nie. Bereits eine halbe Stunde sitze ich hier und streichle in Gedanken deinen Kopf. Ich spüre dich so deutlich, dass ich anfange, lose Haare von meiner Hose zu zupfen. Wie blöd kann man sein?
Tiere sind nicht erlaubt, ich fliege allein. Das habe ich mir so ausgesucht, und es wird mir den Schlaf rauben.
Ich werde die Erde verlassen, einen Neustart wagen, alles auf null setzen. Als einer der ersten Menschen. Allen Ärger, alles, was uns belastet, können wir zurücklassen. Wir starten ohne Krieg in unserer Geschichte. Ohne Geld. Wir werden eine neue Gesellschaft bilden. Wer könnte da Nein sagen? Wir werden die Zukunft sein.
II
Meine Knie zittern, ich kann sie nicht stillhalten. Was willst du halten?
Diese Vibration. Dieser Druck. Den Weg zurück gibt es nicht, Maggie.
„Halt den Mund!“
Mein linkes Auge pocht, es brennt, will bersten. Ein weißer Blitz rammt sich in meinen Schädel. Zurück! Weg! Schluss! Ich werde verrückt. Grün. Gelb. Schwarz. Meine Welt dreht sich. Herum. In meinem Magen. Drückt sich. Heraus. Der Lärm schluckt alles. Er wird dich schlucken! Jetzt.
III
Ich habe angefangen, mir Rituale zu schaffen. Morgens, oder besser: Wenn ich die Augen öffne, rezitiere ich das erste Gedicht, das mir einfällt, oder singe die erste Liedzeile stumm vor mich hin. Ich nehme einfach den allerersten Gedanken und erzähle eine kleine Geschichte, nur für mich. Zeit ist relativ.
Jedes Mal erstaunt es mich aufs Neue, wie meine Augenlider irgendwann vor Erschöpfung zufallen und mich mit diesem Akt der Milde in einen Dämmerzustand zwischen Traum und Nichts sinken lassen. Heben die Lider sich, durchschreite ich das Tor zu meiner persönlichen Hölle.
Unsere menschlichen Geräusche vermischen sich mit den Geräuschen der Maschine, den Piepsern, dem Rauschen des Air Conditioners, der unsere Luft keimfrei aufbereitet zu unseren Lungen zurückschickt. In diesem Chaos wabert die eine Seite zur anderen, immer häufiger entgleitet mir das Oben und Unten, bis selbst Mensch und Maschine ununterscheidbar werden.
Ich hoffe jeden Tag, dass mir die Worte bleiben, die Lieder, die Geschichten, dass sie auf eine unergründliche Art angespült werden und ich sie aufsammeln kann wie die Muscheln als Kind.