Leyla Bektaş: Berlinbericht – März 2024
Hiroshimastraße
Zehn Tage, darf sich das schon Aufenthaltsstipendium nennen? Ich nenne es so, denn mit zwei kleinen Kindern kann es kompliziert bis unmöglich sein, länger zu bleiben. Also zehn Tage, zehn Tage Berlin. Ich wohne in einem Gästezimmer auf zwei Etagen, auf einem Gelände, das rund um die Uhr videoüberwacht wird, in der Bremer Landesvertretung, in direkter Nachbarschaft zur Botschaft der Vereinigten Arabischen Emirate und der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Ich bin hier, um meinen Roman, der in wenigen Monaten erscheinen soll, fertigzustellen. Die Gästewohnung ist wie ein zweistöckiges Hotelzimmer, es gibt eine Küchenzeile und eine Badewanne, ein quadratischer Holztisch dient als Ess- und Schreibtisch.
Zugegebenermaßen fällt es mir in den ersten Tagen nicht leicht zu arbeiten. Das hat aber nichts mit dem Gästezimmer oder mit der Landesvertretung zu tun, sondern mit den vielfältigen Ablenkungsmöglichkeiten der Welt außerhalb des Botschaftenviertels. Mir leuchtet ein, weshalb die meisten Arbeitsstipendien eher in ländliche oder abgelegene Gegenden führen, an Orte mit weniger Möglichkeiten zur Zerstreuung, Orte, die dich zur Einkehr zwingen.
Es hat aber wohl auch mit der Phase des Schreibens zu tun, in der ich mich jetzt befinde und die ich nicht als die spannendste bezeichnen würde. Ideenfindung und Schreibprozess sind abgeschlossen, eine Phase, die schon längst nicht mehr als Schreiben bezeichnet werden kann, sondern als Überarbeiten. Die wievielte Schleife mag es jetzt sein?
Dass ich so viele mir liebe und teure Leute in dieser Stadt habe und einige sehr gute Freundinnen sogar in unmittelbarer Nähe wohnen, macht es nicht unbedingt einfacher.
Mit anderen Worten: mir geht es hier in den ersten Tagen ganz wunderbar.
Goethestraße
Ich laufe durch Charlottenburg. Zum zweiten Mal, seit ich bei meiner Agentur unter Vertrag bin, besuche ich diese in dem altehrwürdigen Altbau, in dem sie ihren Sitz hat. Letztes Mal, als ich hier war, sprachen wir über Verlage, denen mein Roman angeboten werden sollte.
Zehn Monate später bin ich wieder hier, den Verlagsvertrag seit letztem Sommer in der Tasche. Erste Lektoratsphasen habe ich durchlaufen. Mit meiner Agentin spreche ich über Veranstaltungen und Vermarktung, etwas, das sich in diesem Moment noch ziemlich weit weg anfühlt. Wir erstellen eine Liste mit sogenannten Multiplikator:innen. Alle Phasen des Buchschreibens und -veröffentlichens sind für mich neue Schritte in unbekannte Gebiete, das Vordringen in neues Terrain.
Nach dem Treffen in der Agentur mache ich einen Spaziergang durch Charlottenburg. Ich erinnere mich an meinen ersten Berlinbesuch mit meinem Vater, 2001 muss das gewesen sein. Wir wohnten in einer Wohnung in der Goethestraße, die meinem Großonkel gehörte. Wir besuchten das Jüdische Museum, damals ganz frisch eröffnet. Mit meinem Vater Städte zu besichtigen bedeutete immer, unendlich lange auf den Beinen zu sein. Es war im Sommer, Berlin seltsam leergefegt.
Ich suche diese Wohnung in der Goethestraße, in die ich auch in den Jahren darauf wiederkehrte, in immer anderen Konstellationen, während Berlin sich langsam wandelte. Ich laufe mehrere Blöcke ab, vorbei an einem veganen Restaurant, vorbei an mehreren Kitas. Ich liebe es, die Bruchstücke meiner vergangenen Berlin-Aufenthalte aufzudecken, miteinander zu verbinden. Die Straßen zu durchwandern auf der Suche nach Erinnerungen. Lücken zu schließen.
Aber ich finde sie nicht, die Wohnung.
Stattdessen stoße ich auf einen Wochenmarkt am Karl-August-Platz, der sich rund um die Trinitatiskirche herum angeordnet hat. Sizilianische Orangen, Bergkäse, türkische Feinkost und Tantuni. Es ist so warm, dass ich mich nach Schatten sehne.
Ein kleines japanisches Restaurant ist mein Refugium. Innen ist es angenehm dunkel, weder überfüllt noch leer. Ich werde direkt bedient, und die Tacoyakis, die mir empfohlen wurden, schmecken köstlich. Das Lokal und ich fügen uns ineinander wie zwei füreinander gemachte Puzzleteile.
Kurfürstendamm
Stadt, Ort der Exklusionen. Wahrend ich über den Ku’damm laufe, sehe ich Menschen mit aufgespritzten Lippen, Touristen, die sich in der Sonne auf dem Boulevard die Zeit vertreiben. Eine Sache, die ich mit meinem Vater nie machte, wenn wir zusammen unterwegs waren: Zeit in Cafés zu verbringen. Dafür war die Zeit zu kostbar. Wir kehrten nur ein, wenn es wirklich nicht mehr anders ging.
Ich genieße es, mich hier unsichtbar zu fühlen, Bremen kommt mir vor wie ein kleines Provinznest. Mittlerweile laufe ich dort durch die immer gleichen Straßen meines Stadtviertels und grüße gefühlt jede zweite Person, die mir begegnet. Etwas Provinz trage ich in die Hauptstadt; ich kaufe ein Ticket im Bus, bleibe bei Rot an der Ampel stehen.
Ich sehe einen Mann, der mit einem Rosmarinzweig in einem Spreewaldgurkenglas an mir vorbeiläuft.
Später am Tag treffe ich die Schwiegermutter einer alten Freundin, die Französin ist. Unterhalte mich lange mit ihr. Sie wusste nicht, dass ich ein Buch geschrieben habe. Sie zeigt sich sehr interessiert. Sagt danach, dass sie das Gefühl habe, eine modification bei mir beobachtet zu haben.
Im Scherz frage ich sie, ob sie damit meine, dass ich älter geworden bin, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Sie meint, es sei etwas anderes. Dass es damit zu tun habe, dass ich ma voie gefunden habe. Als sie das sagt, klingt es für mich, als hätte sie voix gesagt, also Stimme.
Erst später fällt mir auf, dass sie wohl voie sagte, Weg. Das Schöne am Schreiben: beides ist eins. Meine Stimme ist mein Weg und umgekehrt.
Hiroshimastraße
Ohne die Kinder verändert sich mein Verhältnis zur Zeit. Der Rhythmus, der sonst meinen Tag strukturiert, ist auf einmal weg. In diesen Tagen erinnere ich mich wieder an dieses Schwebegefühl, dieses vertraute Gefühl von früher, das jetzt manchmal fehlt. Nur den eigenen Bedürfnissen folgen. Automatisch bleibe ich abends wieder länger wach. Wache allerdings weiterhin früh auf.
Ich bin immer noch nicht bereit, mich an die Arbeit zu setzen, und das, obwohl meine Lektorin mir Anfang der Woche ihre Anmerkungen geschickt hat. Ich habe alles überflogen, aber noch nicht angefangen, die Kommentare einzuarbeiten. Ich denke, ich habe noch Zeit.
Erst als es einen ganzen Vormittag lang regnet, setze ich mich an den quadratischen Holztisch und klappe den Laptop auf. Hinter dem Laptop sehe ich das Sofa. Ich wechsle aufs Sofa. Dort halte ich es eine knappe halbe Stunde aus. Ich gehe ins Bad, lackiere mir die Nägel. Auch etwas, wozu ich im Alltag selten komme.
Manchmal habe ich das Gefühl, mein Buch sei schon längst erschienen.
Ich habe schon ein paar Mal öffentlich daraus gelesen und noch viel öfter darüber gesprochen. Menschen in meinem direkten Umfeld fragen mich: ist es etwa immer noch nicht fertig? Meine Nachbarin sagte neulich ganz überrascht zu mir: wie, das Buch ist noch gar nicht erschienen?
Sieben Jahre habe ich an diesem Projekt gearbeitet. Nicht volle sieben Jahre, nicht jeden Tag in Vollzeit. Ich habe in diesen sieben Jahren auch andere Jobs gehabt, zwei Kinder bekommen, und bin dreimal umgezogen. Trotzdem. Menschen, die in anderen Bereichen arbeiten, können sich manchmal nicht vorstellen, wieviel Zeit man mit dieser einen Sache zubringt, wie viele Energien da reinfließen, wieviel Verschwendung und Leidenschaft.
Einige sagen zu mir: vielleicht ist es langsam an der Zeit, loszulassen.
Und sie haben recht. Vielleicht ist es das.
Potsdamer Platz
In Berlin werben die Anzeigetafeln in diesen Tagen für Demokratie. Etwas verzweifelt wirkt sie, diese Werbung (oder Mahnung) auf Leuchttafeln, oder liegt es am Regen?
Ich fahre nach Köpenick und brauche dafür fast zwei Stunden, ich schaue auf mein Handy, vor einigen Wochen habe ich mich nach langem inneren Widerstand auf Instagram angemeldet. Ein bisschen fühlt es sich an als hätte ich kapituliert, nun bin auch ich unmittelbarer Zeuge der Aufsplittung der Menschheit in Partikularinteressen, und mir fehlt noch ein innerer oder äußerer Filter, mich nicht ständig damit zu konfrontieren, wie Andere sich gekonnt oder weniger gekonnt zur Marke machen.
Ein Musiker betritt die S-Bahn mit seiner Gitarre und singt Schau doch mal vom Smartphone hoch. Ich muss lachen. Etwas altertümlich wirkt die Phrase, sicherlich ist es selbst getextet. Leg doch mal das Smartphone weg, singt er nochmal, aber tatsächlich fühlen einige sich ertappt und schauen hoch. In der Blechdose klimpern die Münzen, er verbeugt sich, ehe er die Bahn verlässt.
Elsenstraße
Lange Zeit war die Sonnenallee meine Anlaufstelle, wo meine Schwester viele Jahre in einer WG lebte. Dann zog sie nach Alt-Treptow, dort wohnt sie jetzt auch schon mehrere Jahre. Den Sonntag verbringe ich mit ihr. Nachdem wir in einem israelischen Café das vielleicht beste Hummus meines Lebens gegessen haben, spazieren wir über den Flohmarkt am Maybachufer bei eiskalten, nassen Temperaturen. Ich merke schon, dass ich krank werde.
Meine Schwester kocht mir einen Tee. Von ihrem Zimmer aus (sie wohnt in der vierten Etage) können wir direkt auf das Haus sehen, in dem unsere Großmutter in den 1940er Jahren mit ihrer Mutter und Schwester lebte. Ein verrückter Zufall, den wir feststellten, als meine Schwester hierherzog. Das Haus in der Elsenstraße ist mittlerweile saniert, ein schöner Altbau. An die genaue Etage konnte meine Großmutter sich nicht mehr erinnern, als sie davon erzählte, wohl aber daran, dass sie hier das letzte Mal ihren Vater sah. Er war stationiert auf der Krim, für ein paar Tage auf "Heimatbesuch" und hatte ihr von der Krim einen Spitz mitgebracht. Allerdings wollte ihre Mutter den Hund in der Wohnung nicht haben, es war 1943, und als er ging, nahm er den Spitz wieder mit. Im Jahr darauf verlor sich seine Spur, galt von da an als vermisst. Meine Großmutter wurde zusammen mit ihrer Mutter und Schwester nach Schlesien evakuiert. Später flohen sie nach Norddeutschland.
Hiroshimastraße
Ich fühle mich wie ausgehöhlt, die Stadt hat mir jegliche Ressourcen geklaut. Das Kranksein zwingt mich, mich endlich der Arbeit zuzuwenden. Wieder die Scheuklappen aufzusetzen, die ich so gut kenne. Die Stille einkehren zu lassen, die notwendige Stille, um meine eigene Stimme zu hören.
Und zufällig entdecke ich auch jetzt erst die Dachterrasse. Sie gleicht einer Lounge, nur dass ich sie ganz für mich alleine habe, und hier komme ich dann wirklich endlich zum Arbeiten, mehrere Stunden am Stück, einige Tage hintereinander, ohne Pause. Auch das ist wichtig, auch das ein seltenes Gut, wenig unterbrochen zu werden und während der Überarbeitung habe ich einige Ideen, von denen ich sicher bin, dass sie mir in meinem Alltag nicht gekommen wären. Also verlasse ich die Hiroshimastraße nach zehn Tagen mit dem guten Gefühl, hier Wichtiges getan zu haben für meinen Text, und nicht zuletzt für mich selbst.
Leyla Bektaş wurde 1988 in Achim geboren und wuchs als Tochter einer deutschen Mutter und eines türkischen Vaters in Bremen auf. Sie studierte Romanistik in Köln, mit Stationen in Bordeaux und Mexiko-Stadt, später Literarisches Schreiben in Leipzig. Sie arbeitete als Dozentin für spanischsprachige Literatur, als Trainerin für Deutsch als Fremdsprache und gibt regelmäßig Seminare und Workshops für Kreatives Schreiben. Ihre Texte erschienen in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien (u.a. poetin, Tippgemeinschaft). Ihr erster Roman, für den sie 2020 das Bremer Autorenstipendium erhielt, erscheint im Herbst 2024 bei Nagel und Kimche.