Jutta Reichelt: Berlintagebuch – Mai 2023
„Musst du hier eigentlich auch arbeiten?“, fragt mich meine Nichte, nachdem ich aufgezählt habe, wo ich in den ersten Tagen mit meinem Leihrad schon überall unterwegs war. „Aber das ist doch meine Arbeit!“, sage ich. „Ich werde hier dank des Stipendiums vor allem als Location-Scout in eigener Sache unterwegs sein!“ Die Verwandtschaft betrachtet mich ratlos. Also erzähle ich von Olga und Simon, Sophie und Charlotte, dem Personal meines gerade entstehenden neuen Romans, der in Berlin spielt – weswegen ich jetzt auf der Suche bin nach geeigneten Straßen und Orten.
„Und was suchst du genau? Vielleicht können wir dir helfen!“ Ich gehe in Gedanken die Szenen durch, die ich bereits geschrieben habe. „Was ich auf jeden Fall brauche, ist ein Platz, von dem aus Olga heimlich Simons Hauseingang beobachten kann. Von einem kleinen Café aus, das ein paar Stühle und Tische draussen hat. Der Hauseingang muss schräg gegenüber sein. Ein bisschen versetzt. Zehn, zwanzig Meter.“
„Savigny!“, sagt meine Nichte mit großer Bestimmtheit, als könne es in ganz Berlin keinen Platz geben, der für Olgas heimliche Beobachtungen geeigneter wäre. Ich zögere. Eigentlich stelle ich mir was Kleineres vor.
„Oder der Stutti!“, ruft meine Nichte begeistert, mittlerweile vom Flur aus.
„Wie wäre es mit dem Klausener …“ Auch mein Bruder ist jetzt mit von der Partie. Mich rührt die Hilfsbereitschaft meiner Familie und ich beschließe, ihre Vorschläge in den nächsten Tagen auf jeden Fall anzuschauen. Bei der Verabschiedung haben auch der Neffe („Auf keinen Fall Prenzlauer Berg, das ist so klischeemäßig!“) und meine Schwägerin noch gute Hinweise für mich: „Und was ist mit dem Osten? Warst du schon am Boxhagener?“
Als ich einige Tage später zum sonntäglichen Familien-Frühstück eingeladen bin, mache ich der unterhaltsamen Suche ohne größere Vorwarnung ein Ende: „Es wird der Prager Platz!“ Dass ihn keiner kennt, scheint mir ein weiteres Zeichen dafür zu sein, dass ich eine gute Wahl getroffen habe. Ich erzähle, dass ich „meinen Platz“ ganz zufällig entdeckt habe, bei einem Ausflug nach Friedenau. Kaum hatte ich mein Rad abgestellt, dachte ich: Das ist er! Ein kleiner Berliner Platz, durch den Aldimarkt nicht zu idyllisch (wie der nahegelegene Viktoria-Luise-Platz), nicht zu groß (wie der Savigny) und zentraler als Klausener und Stutti.
Zentral ist wichtig, weil dieser Ort, den Olga immer wieder aufsucht, nicht allzuweit von ihrer Arbeitsstelle und ihrem Wohnort entfernt sein darf – die ich auch noch finden muss. Wenn der Platz zentral liegt, bleibe ich beweglicher, was die anderen Schauplätze meines Romans betrifft. Ich habe auch noch nicht entschieden, an welcher der Berliner Unis Simon studiert. Und wo wohnt Sophie, in die er sich verliebt? Es muss im Umkreis von 6 - 8 Kilometern sein, weil Simon in einer Szene etwa zwei Stunden zu Fuß braucht …
Aber immerhin habe ich jetzt einen Ort, von dem aus ich das Netz von Bedingungen und Zusammenhängen entwickeln und über Berlin ausbreiten kann: den Prager Platz! Jedenfalls stelle ich mir das eine glückliche Woche lang so vor. Eine Woche, in der ich mich um Simons Studium kümmere und um den Buchladen von Sophies Mutter – und tatsächlich auch ein bisschen schreibe. Aber dann … Aber dann fahre ich wenige Tage vor dem Ende meines Aufenthaltes nochmal zum Prager Platz, um Fotos zu machen und Notizen. Das erste Mal war ich an einem sommerlich warmen Samstag dort, jetzt, an einem nieseligen, kühlen Mittwochnachmittag erkenne ich den Prager Platz kaum wieder! Er ist so unbelebt, dass Olga sofort auffiele, wenn sie dort säße! Und der einzige Hauseingang, den sie halbwegs geschützt beobachten kann, führt sicherlich nicht zu einer studentischen WG! Wo immer Simon wohnt, ganz sicher nicht am Prager Platz!
Die Verwandtschaft nimmt die Nachricht erfreut auf: Das Recherche-Spiel kann weitergehen! Ich werde also schon bald wiederkommen. „Und wo wirst du dann wohnen?“, fragt mein Bruder und bietet freundlicherweise gleich das Wohnzimmersofa an. Ich berichte, was auch in Bremen viele nicht wissen: Man braucht kein Stipendium und muss keine Senatorin oder Landesbedienstete sein, um im wunderbar gelegenen Gästehaus der Bremer Landesvertretung mit seinen freundlichen Mitarbeiter:innen und der wunderbaren Dachterrasse ein Apartment bewohnen zu können: Jede und jeder ist dort willkommen! Dieses Angebot werde ich nutzen für meine weiteren Berlinrecherchen und dann werde ich ihn schon noch finden: „meinen Platz“ in Berlin!
Jutta Reichelt, geboren 1967, lebt als Schriftstellerin und Geschichtenanstifterin in Bremen. Sie schreibt Romane, Erzählungen, literarische Essays und bloggt Über das Schreiben von Geschichten. Für unterschiedliche Institutionen (Bremer Blaumeier-Atelier, Wilhelm-Wagenfeld-Museum, Universität Bremen, Bremer Literaturkontor u.a.) entwickelt und leitet sie Schreibwerkstätten und -projekte, darunter auch zwei Schulhausromane, die unter ihrer Leitung für das Literaturhaus Bremen entstanden sind.
Jutta Reichelt wurde für ihre schriftstellerische Arbeit bereits mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2020 mit dem Projektstipendium der Freien Hansestadt Bremen für die Fertigstellung ihres aktuellen Schreibprojektes mit dem Arbeitstitel Lebensgeschichtslosigkeit – eine autobiografische Annäherung.
Jutta Reichelt ist Mitglied im Verband Deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, im Förderverein des Bremer Literaturhauses, im Bremer Literaturkontor und im Klub Dialog.