Frauke Schumacher – Auszug Romanprojekt „Wenn im Krieg ein Sperling singt“
Mach deinen Zug, Ismær. Mach schon, bring es hinter dich. Nur einen Zug, einen Schritt, gerade voraus, nicht außer der Reihe, niemals zurück. Nur einen Schritt voran. Weiß rückt vor, und du bist einer der ihren: eine Spielfigur, cremebleich, aus dem Knochen eines Pferdes gedrechselt.
Ismær drückte seine Zehen an die Erde, die so viel unnachgiebiger war als die feuchten Auenwiesen Ostangliens und der schwingende Boden der Moore, die den Hof seines Onkels umgaben. Fremd war sie, diese Erde, und sie zeigte sich hart und abweisend. Hier wucherte keine Heide; keine Kiefern beschatteten die grasige Ebene. Eine karge Weite erstreckte sich vor ihm im Sonnenschein.
Ja, die Sonne schien. Es war ein klarer Frühlingstag. Kein Nebel, nicht einmal ein leichter Regen hatte sich bereitgefunden, sich über das Feld zu legen. Sehend, so standen sie einander gegenüber, und Ismær sah. Er sah eine Wand, geformt aus Rundschilden, die ihm als hölzerne Augen des Feindes entgegenstarrten, lidlos und weit. In der Mitte jedes einzelnen Auges – eisern spitz – der Schildbuckel als stechende Pupille, eingefasst von einer ledern bezogenen, grell bemalten Iris. Je Mann ein niemals blinzelnder Schild, und darüber der vorgereckte Speer, der als einzige, starre Wimper die Schärfe des Blicks bezeugte.
Mach deinen Zug, Ismær. Es ist nur ein Spiel.
In mühsam gezähmter Erregung drängten sich hinter ihm die Männer seines Onkels. Einer von ihnen war es denn auch, der ihm seinen Schildbuckel in den Rücken drückte und ihn voran zwang, um zu der ersten Reihe aufzuschließen. Dort, schräg vor Ismær, leuchtete Nechtans rotbrauner Schopf. Gerade aufgerichtet sah der Freund den Feinden entgegen, das Kinn gehoben, sodass die langen Haare aus dem breitwangigen Gesicht fielen. Die Flammen der Signalfeuer, die ihnen vom nahenden Krieg gekündet hatten, sie hatten etwas in ihm erweckt, das immer in ihm geschlummert hatte, und von dem Ismær im Stillen gehofft hatte, es möge auf ewig verborgen bleiben. Nechtan war bereit zum Kampf. Ismær hatte Angst.
Frauke Schumacher, geboren 1984 in Bremen, studierte Germanistik in Bremen und Olomouc. Sie promovierte und lehrte im Bereich der Literatur des Mittelalters. Aktuell ist sie im International Office einer niedersächsischen Universität tätig und befasst sich dort mit internationalem Austausch und interkulturellen Fragestellungen. Sie lebt in Bremen und arbeitet derzeit an ihrem ersten Roman.
Begründung der Jury
Nachwuchsstipendium
Aus einem der dunkelsten Zeitalter der Menschengeschichte fliegt uns ein kleiner Sperling entgegen und leitet damit einen Antihelden-Epos ein, aus einer Zeit, die durch Glauben und Heldentum bestimmt ist.
Das Romanprojekt „Wenn im Krieg ein Sperling singt“ von Frauke Schumacher ist im Britannien des Jahres 634 angesiedelt. Schumacher erzählt darin von Königreichen, Kriegen, Freundschaft und Glauben – alle Zutaten, die man für einen mitreißenden historischen Roman braucht. Doch Schumachers Anspruch geht weit darüber hinaus, bloß einen reißerischen Historienroman zu schreiben. Sie nimmt ihr historisches Setting ernst und orientiert sich dabei u.a. an einem großen Werk – dem altenglischen Heldenepos „Beowulf“, das in dem Romanprojekt auf originelle Art widergespiegelt werden soll, indem die Kriegstaten und die Gesellschaft aus der Sicht von Antihelden und Frauen geschildert werden, die im Heldenepos nicht zu Wort kommen.
Ein heroisches Ziel, dem die ausgewählte Textstelle erstmal gerecht werden musste. Und das tat sie mit voller Wucht – und zwar im zweiten Anlauf, denn das Romanprojekt war der Jury schon aus dem vorrangegangenen Jahr bekannt. Beim ersten Anlauf kam der Text zwar schon in die engere Auswahl, hatte aber noch nicht die erhoffte Tiefe, sodass die Jury damals noch nicht komplett davon überzeugt war, dass das Niveau über 500 Seiten zu halten sei. In diesem Jahr war es ganz anders. Der erste Satz zog die Jury sofort in das Geschehen dieser dunklen Zeit. Die neu ausgewählte Textprobe entwickelt nicht nur einen starken und klaren Sprachsound, sondern erweckt, mit einer wunderbaren Leichtigkeit, das 7. Jahrhundert in Britannien zum Leben. Durch die detaillierten Beschreibungen in den einzelnen Szenen wird schnell deutlich, hier hat jemand äußerst intensive Recherche über die Geschichte und die Literatur der damaligen Zeit betrieben. Die bildreiche und poetische Sprache des „Beowulfs“ finden sich zudem in Stabreimversen wieder, die als Lieder in den Text eingeschoben werden.
Die Geschichte selbst erzählt von der Freundschaft zweier sehr unterschiedlicher Männer, die sich seit Kindheitstagen kennen. Nechtan möchte sich als Kriegsheld beweisen und in den Liedern seines Volkes besungen werden, während Ismær ruhig und besonnen ist, aber dennoch treu an der Seite seines Freundes bleibt. Der Krieg jedoch öffnet beiden die Augen und die Autorin eröffnet neue Perspektiven auf eine vergangene Zeit und berührt zugleich Themen mit aktueller Relevanz.
Frauke Schumacher hat der Jury mit ihrer erneuten Bewerbung bewiesen, dass sie das Niveau sehr wohl halten kann. Daher fiel das Juryurteil zu ihren Gunsten aus. So viel Mut und Können soll gewürdigt und dem Publikum zugänglich gemacht werden. Die Jury gratuliert der Preisträgerin von Herzen.
Zur Jury 2021 gehörten Dr. Alexandra Tacke (Leiterin des Referats 12 & Referentin für Literatur beim Senator für Kultur), Prof. Dr. Karen Struve (Universität Bremen & Vorstand Bremer Literaturkontor), Alexandra Rempe (Geschäftsführerin Buchhandlung Storm), PD Dr. Ian Watson (freier Autor & Vorstand virt. Literaturhaus) und Helge Hommers (Journalist & Stipendiat 2018).