Ausschnitt von einem Arbeitstisch aus einer Schreibwerkstatt

Werkstatt-Texte

Lehrauftrag ›Stoffentwicklung und Storytelling‹ im SoSe 2020 - mit Anna Lott

Im Sommersemester 2020 war die Autorin Anna Lott Dozentin des Kurses ›Storytelling und Stoffentwicklung‹ an der Uni Bremen. 12 Studierende nutzten die Chance, mit Personen, Plots und Erzählperspektiven zu experimentieren und der eigenen Erzählstimme ein Stück weit näher zu kommen. Das gesamte Semester fand coronabedingt im digitalen Modus statt.

Nachdem die Studierenden eine Figur entwickelt hatten, schrieben sie eine Szene mit einem einfachen Handlungsablauf. Im vorliegenden Beispiel trank die Protagonistin Alyssa (25) eine Tasse Tee. Nachdem die Szene geschrieben worden war, ging es darum, einen Antagonisten/ eine Antagonistin zu entwickeln und in die Szene miteinzubinden. Ziel war es, zu erforschen, inwiefern diese Gegenbewegung die Handlung der Hautfigur beeinflusst.

Antagonist 1: Ein körperliches Problem (hier: ein Tremor)

Alyssa hatte einen sehr erfolgreichen Tag: Noch nie hat sie so viel Geld auf einmal erbeutet. Allerdings hat sie für das ganze Unterfangen sehr lange gebraucht und wurde fast geschnappt. Es fiel ihr immer schwerer, ihr Werkzeug zu benutzen, denn ihre Hände zitterten unkontrollierbar. Weil sich ihre wochenlangen Vorbereitungen jedoch ausgezahlt hatten, wollte sie sich als Belohnung einen Pfefferminztee zubereiten und ihn vor ihrem Kamin in aller Ruhe genießen. Als erstes musste sie hierfür den Wasserkocher befüllen. Mehrmals musste sie ansetzten, denn ihre Hand zitterte so sehr, dass das Wasser mehrmals daneben ging. Aber auch beim zehnten Versuch war sie immer noch nicht erfolgreich gewesen. Alyssa stellte den Wasserkocher ins Waschbecken und ließ so das Wasser vom Hahn in den Teekocher laufen. Dabei fühlte sie sich, als müsste sie ihren ganzen Stolz und ihre Würde ablegen. Auch wenn es sich hierbei nur um eine kleine Alltagshandlung handelte, machte sie der Gedanke fertig, dass sie nicht einfach ihre Hände dafür benutzen konnte. Sie atmete tief durch, den Tränen nahe und hatte schon Angst davor, die Packung mit dem Tee zu öffnen, geschweige denn einen Beutel zu entnehmen und das kochendheiße Wasser in die Tasse zu gießen. Aus diesem Grund hatte sie schon ewig keinen Tee mehr getrunken, beim letzten Mal hatte sie sich fürchterlich verbrannt. Da kam ihr plötzlich eine Idee: Sie könnte versuchen, die Verpackung mit den Zähnen zu öffnen. Dies tat sie dann auch und es fühlte sich genauso entwürdigend an, wie vorher mit dem Wasserkocher. Immerhin war sie jetzt fast fertig. Um das nun fertige Teewasser einschenken zu können, musste sie all ihre Konzentration aufbringen und hielt die Hand, in der sich der Wasserkocher befand, zur Sicherheit mit der anderen fest. Außerdem zog sie sich vor dem Unterfangen eine dicke Jacke über, um sich im Zweifelsfall vor Verbrennungen am Oberkörper schützen zu können. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie den Tee aufgegossen hatte. Als sie es endlich geschafft hatte, trug sie die nur halbvolle Tasse zum Sofa und konnte nun endlich ihren Fair-Trade-Tee genießen, wartete aber noch etwas, bis er abgekühlt war. Nur für alle Fälle.

Antagonist 2: Eine Naturgewalt (hier: Ein Erdbeben)

Alyssa hatte einen sehr erfolgreichen Tag: Noch nie hat sie so viel Geld auf einmal erbeutet und das alles in nur fünf Minuten. Natürlich hat die Vorbereitung mehrere Wochen in Anspruch genommen, doch das war es wert. Ihr Plan ging perfekt auf und zur Belohnung für ihre zielstrebige und ehrgeizige Planung wollte sie sich nun in aller Ruhe eine Tasse Pfefferminztee vor ihrem Kamin genehmigen. Sie befüllte den Wasserkocher, stellte ihn an, öffnete die Teepackung, holte einen Beutel heraus, öffnete diesen, legte ihn in die Tasse und goss kurze Zeit später das sprudelnde Wasser über den Teebeutel aus Fair-Trade-Herstellung. Gerade als sie ins Wohnzimmer gehen wollte, um das Heißgetränk auf ihrem bequemen samtenen Sofa zu trinken, erschütterte plötzlich ein Rütteln das Haus. Erdbeben waren in dieser Gegend nichts Unübliches, aber dieses war stärker als alle, die Alyssa je miterlebt hatte. Schnell sprang sie unter den Küchentisch, die Hände schützend auf ihren Kopf gelegt. Der Strom fiel aus, Regale und Bilder fielen von den Wänden und die Alarmanlagen aller Autos auf der Straße fingen an schrill und erbarmungslos zu kreischen. Vor lauter Angst hatte sie für einen kurzen Augenblick ihren Tee vergessen, doch als das Geschirr ihrer Großmutter aus der Vitrine fiel und klirrend zu Boden ging, kam ihr der erfrischende Minztee wieder in den Sinn. Alyssa lugte unter dem Tisch hervor und zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass die Teetasse noch ganz unversehrt auf der marmornen Arbeitsplatte stand. Sollte sie es wagen? Sie kniff die Augen zusammen. Das Beben pausierte. Alyssa sprang auf, sprintete zu ihrem Tee, legte ihre Hand über die Tasse, um nichts zu verschütten, und versteckte sich wieder unter dem massiven Küchentisch. Hier war sie sicher und endlich konnte sie ihren Fair-Trade-Tee genießen. Das war das Risiko jawohl wert. Oder?

Die Studierenden experimentierten über mehrere Seminareinheiten mit ihrer Hauptfigur und ihren Antagonist*inn*en. In diesem Zusammenhang wurden auch unterschiedliche Erzählperspektiven ausprobiert, unter anderem die Ich-Perspektive und Erzählperspektiven aus Sicht der jeweiligen Antagonist*inn*en, wie die folgenden Szenenbeispiele von Jana Kipry zeigen:

Perspektive 1: Ich-Perspektive

Schweiß rann meinen Rücken hinab, als ich den Vorhang der Bühne hinter mir schloss. Das Jubeln der Männer vibrierte durch meinen Körper, mengte sich unter den trampelnden Regen und das stetige Knurren des Gewitters, welches seit den Morgenstunden über die Stadt zog. Obwohl nun der rote Samtstoff zwischen uns war, brannten ihre gierigen Blicke noch immer Löcher durch das durchsichtige Kleidchen, welches meine Haut nur mäßig bedeckte. Meine Kehle war schon seit Stunden ausgetrocknet und es war lange her, dass ich mich derart erschöpft gefühlt hatte nach einem Auftritt. Etwas zu trinken wäre gut, vielleicht ein Glas Milch, ungestört, fort vom Lärm, dem Gestank von Erregung und Schweiß des Bühnenraumes. Eines der Mädchen eilte mit meinem Überwurf und Schuhen herbei. Nach dem Anziehen nahm ich die Treppe nach oben in den zweiten Stock. Mit jeder Stufe floss das letzte bisschen Kraft aus meinem Körper, welches meine Glieder nur noch mit dünnen Fäden zusammengehalten hatte. Beim Zurückschieben des gelben Vorhangs lauschte ich auf die Stille, die hier herrschte. Stille, hier als Abwesenheit von betrunkenem Geschrei und obszönen Pfiffen, denn der Donner war hier umso lauter und der Regen knallte gegen die Fensterscheiben. Er beruhigte mich. Ich nahm einen tiefen Atemzug und konnte mich selbst endlich wieder hören, spüren, wie sich meine Lungen mit Luft füllten. Es roch nach Essen und Wein und Holz. Viel angenehmer.

Plötzlich ein lauter Knall, das Licht verschwand, es roch verbrannt. Blitzeinschlag. Nicht selten in der Sturmsaison. Ich tastete an der Wand nach dem Lichtschalter, aber es blieb dunkel. Durch das Fenster drang ein dämmriger Schein von den Straßenlampen hinein, welcher gerade ausreichte, um verschwommene Umrisse zu erkennen. Vorsichtig tastete ich mich voran, bückte mich, fasste in der Dunkelheit nach dem Griff des Küchenschranks. Fühlte das kühle Glas der Milchflasche, die Rundung des Glases. In der Hocke sitzend öffnete ich den Schraubverschluss und trank in großen Schlucken. Erst jetzt merkte ich, wie durstig ich tatsächlich gewesen war. Ich setzte mich auf den Holzboden, lehnte mich an den Schrank. Meine Augen schlossen sich. Nur gedämpft drangen jetzt wieder tiefe Stimmen und langsame Musik in die Küche, als befände sich mein Kopf unter Wasser, im Hintergrund das Rauschen des Sturms.

Die nächste Tänzerin hatte die Bühne betreten.

Perspektive 2: Die Naturgewalt (das Gewitter bzw. der Blitz)

Brüllen, Knurren, Keifen fegte durch die Gassen und Straßen, über Schornsteine und Backsteinhäuser. Der Wind war heute auf meiner Seite und stürmte mit mir in jeden Winkel der Stadt, riss Fensterläden aus den Angeln und die Regentropfen mit ihren kurzen Beinen auf das Kopfsteinpflaster stolpern. Was war das? Ein anderes Donnern, ein anderes Brüllen, ein Ansturm heftiger Erregung, welcher das Gebäude dort vorn erzittern ließ. Eine junge Menschenfrau, um ihr blasses Gesicht floss schwarzes Wasser, sie trat hinab von einem Podest, glitt hinter einen dunkel roten Wasserfall. Da, davor, vor dem Wasserfall, auf totem Holz tobte der Sturm. Menschenmänner donnerten aus ihren kleinen Kehlen, dass sie mein Brüllen übertönten. Was lag in ihren Blicken für eine Habgier, eine Selbstsucht, sie bleckten die Zähne — was musste dieses kleine Menschenweib getan haben, um mit solcher Brutalität empfangen, verjagt zu werden. Das Weibchen, die schwarzen Wellen umschmeichelten ihr bleiches Gesicht, welches leuchtete wie ein Stern, der nach mir am Himmel schimmern würde. Noch nie hatte ich Sterne gesehen, konnte mich nie mit den kichernden Kindern von Sonne und Mond unterhalten. Auch der Wind hatte nie Zeit, denn er war sprunghaft, schnell fort, weckte mich sodann erneut, bevor er mich wieder in die Weite des Himmels entließ.

Das Sternenmädchen ging in einen Raum hinter einem sonnengelben Wasserfall. Sie versteckte sich hinter so vielen Wasserfällen. War auch sie allein, ausgesetzt dem stetigen Sturm um sie herum?

In mir trafen Luft und Wasser und Hitze aufeinander, und ich brüllte über den Himmel. Mein Zorn sollte das gewaltige Tosen der Menschenmänner übertönen, sie es nicht hören lassen. Sie sollte nur mein liebevolles Schnurren hören und die Regentropfen sollten an die durchsichtigen Wände schreiben, Ich bin da ich bin da ich bin da.

Mein Blitz entlud sich über ihren Köpfen, zuckte durch das Gestein, und die oberen Lichter des Hauses erloschen. Kommt raus, schrie mein Donner, kommt raus und schweigt! Lasst sie in Frieden mit euren gierigen Zähnen.

Aber es rührte sich nichts. Ich sah das Sternenmädchen, das nun durch einen dunklen Raum tastete, schließlich ein Gefäß mit weißem Wasser fand. Sternenwasser, eingefangenes Sternenlicht in flüssiger Form, das musste ihr Geheimnis sein. Ich war impulsiv gewesen, hatte meine Wut entladen ohne zu bedenken, dass sie sich im Raum befand. Das spöttische Husten des Windes klang in mir nach. So unvorsichtig, unüberlegt.

Ich beobachtete, wie sie das Sternenwasser trank, und bildete mir ein, um ihren Körper einen hellen Schein zu sehen.