Benjamin Tietjen: ›Mister Gute Miene‹
Feierabend. Die Menschen drängten sich auf dem Bahnsteig. Beleuchtet vom künstlichen Licht. Unter der Erde. Sie schauten auf ihre Armbanduhren. Sie tippten in ihre Handys. Sie lasen Zeitung. Einige unterhielten sich.
Er stieg die Treppen zum Bahnsteig tänzelnd runter. Ganz so, als wären die Stufen die Tasten eines Klaviers, das er mit seinen Stiefeletten bespielte. Beinahe in Trance. Ganz in Schwarz. Im Rhythmus zu der Musik, die aus seinem Walkman kam.
Er schrieb mit einem schwarzen Marker ›Imagine there’s no Heaven‹ an die Fliesen der U-Bahnstation. Seine Handschrift war nicht die eines Writers. Er schrieb Buchstabe für Buchstabe in sauberer Druckschrift. Hier und da verlief die Farbe. Er malte einen Schrägstrich hinter ›Heaven‹ und schrieb ›It’s easy if you try‹.
Die Menschen lasen Zeitung. Ein Mann streichelte seinen verunsicherten Hund. Die Luft stand.
Er schrieb ›No hell below us‹. Ein Schrägstrich. Dahinter ›Above us only sky‹. Die erste Strophe war fertig. Am Ende stand ›Living for today‹, und dann kam das Werbeplakat für ›Hugo Woman‹. Geschaffen aus einer neuen ungezähmten Lust am Leben.
Er ging zurück und schrieb unter die erste Strophe die zweite. Darunter die Dritte, die Vierte, den Schluss. Dann malte er dem weiblichen Model auf dem Werbeplakat eine runde Sonnenbrille. Dorthin, wo zuvor ihre bestechenden Augen waren. Und über ihren ernsten Mund malte er einen lachenden Mund.
Dann kam die Bahn. Er setzte sich ans Fenster und schaute auf die Wand. Alex nickte ihr zu. Ganz so, als kommuniziere sie mit ihm. Als bestätige er zufrieden ihren neuen Look.
Begründung der Jury
Ein Argument für die Wahl des Textes ›Mister Gute Miene‹ von Benjamin Tietjen war der faszinierende Charakter des Protagonisten. Dieser junge Mann, Alex, 27, wirkt wie aus der Zeit gefallen: Er orientiert sich, auch im Gefühlsleben, so will es scheinen, an toten Literaten, allen voran an Tschechow, oder zumindest an dem Bild, dass er sich von ihm macht. Ein anderes die klare, schnörkellose Sprache, in der erzählt wird, die lakonische Konstruktion von Szenen, die Alex' Einsamkeit vorführen. Im Bahnhof schreibt er Lennon's Verse an die Wände, ohne dass jemand auch nur hinsieht, zu Hause warten nur sein Hund und die sehr alte Zimmervermieterin auf ihn, die Liebe der jungen Frau mit dem Namen Olga kann er nicht erwidern. Überzeugend ist dabei, wie der Autor mit Hilfe von Dingen innere Befindlichkeiten zur Kenntnis bringt: Schachspiel, Möbel, Münzen, ein Apfelrest.
Zur Jury 2014 gehörten Jan Gerstner (Universität Bremen), Ulrike Marie Hille (VHS Bremen / Autorin), Gudrun Liebe-Ewald (Stadtbibliothek Bremen), Jens-Ulrich Davids (Vorstand Bremer Literaturkontor / Autor) und Betty Kolodzy (Autorin/ Stipendiatin 2013).
Benjamin Tietjen wurde 1983 in Achim geboren. Er studierte Philosophie, Kulturwissenschaft und Germanistik an der Universität Bremen sowie Architektur an der Hochschule Bremen. Seit 2009 präsentiert er seine Texte im Rahmen von öffentlichen Lesungen und Lesereihen, schreibt Kurzprosa und Essays fürs Radio, veröffentlicht Geschichten in Zeitschriften und Anthologien und regelmäßig eine Rock 'N' Roll-Kolumne. Zurzeit arbeitet Tietjen an einem Romanprojekt.
In der Reihe MiniLit ist in Heft Nr. 3 Benjamin Tietjens Text An einem Sonntag erschienen.