Collage mit fünf Autor*innen zum Corona-Blog

Corona-Blog: Wiederaufnahme Herbst 2021

Porträt von Meike Dannenberg
© Blaise Bougois

Meike Dannenberg am 29. November und 2. Dezember 2021

Meike Dannenberg, geb. 1974 in Bremen, begann während des Studiums der angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg, für verschiedene Medien zu schreiben. Seit 2010 ist sie Redakteurin des BÜCHERmagazins und ist außerdem Krimi-Autorin. Meike Dannenberg wohnt mit ihrer Familie in Bremen.

www.meikedannenberg.de

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Glasklare Ostsee

Mit Blick auf den weiten Horizont über der Ostsee klaube ich mich zusammen. Den Blogbeitrag 2020 beherrschte meine Angst. Sorge, wie das Kind die Pandemie verwinden wird. Seit drei Tagen bin ich allein am Meer.

Ich bin erschöpft und will endlich konzentriert schreiben. Ich konnte zuletzt den großen Bogen nicht denken.

Am Meer kann ich schreiben. Aber erstmal weine ich. Vor Erleichterung über die Stille und unser Glück. Meine Familie ist geimpft. Niemand von uns ist an Corona gestorben oder hat Folgeschäden. Wir sind nicht bankrott. Wir bekamen Hilfe vom Land Bremen. Das Kind sagte, es müsse sich nicht mehr fürchten, wenn der Antigen-Test in der Schule anstünde. Das schmerzt. Das darf jetzt gehen. Ist vorbei.

Die Ostsee ist am Ufer so durchsichtig wie Glas. Ich fühle die Frische und Dankbarkeit mit jeder Faser. Es ist das Privileg unserer zufälligen Geburt als Deutsche, dass wir es schon überstanden haben. Fast.

Jetzt gibt es wieder Einschränkungen, die das noch fragile Familienleben leiden lassen.

Ich verstehe die Blase der Impfgegner aus dem esoterischen Umfeld vermutlich besser, als die meisten. Ich möchte niemanden verurteilen, weil er sich wünscht sein Leben wacher zu leben, im Gegenteil. Aber wenn Sie zögern, sich impfen zu lassen, aber schon mal Aura-Soma-Öl gekauft haben, ist dies vielleicht ein Text für Sie.

Es gibt in jedem Leben Wendepunkte und meine hatten mit Krankheit zu tun. Als ich als Teenager Ende der Achtziger alle meine Haare verlor, schien jeder Haushalt Thorwald Dethlefsens Buch „Krankheit als Weg“ zu besitzen. Meine Mutter weinte fast, damit ich zu dem Seminar eines Indianers ging, der in einer Turnhalle voller Menschen fragte: Wann hast du dich für deine Krankheit entschieden?

Ich war bei dem Indianer, ließ Unsummen bei Heilpraktikern. Fühlte Schuld.

Aber wer ist dieser Thorwald Dethlefsen? Welche Qualifikation hat der Mann? Ich las sein Buch „Reinkarnationstherapie“. Es befasst sich mit Hypnose, unter der u.a.  Menschen mit Hauterkrankungen sich erinnern, wie sie als Hexe verbrannt wurden. Glaubten all die Menschen, die seinen Bestseller lasen, auch das?!

Viele Angebote gaben mir das gleiche Gefühl wie Thorwald, dem ich inzwischen gerne mal im Dunkeln begegnen würde. Sie waren darauf ausgelegt, jeden willkommen zu heißen, das Selbst heilig zu sprechen. Das Individuum. Ich las, sprach mit Experten, verglich den Begriff Karma in Esoterik, Buddhismus und Christentum. In der esoterischen, westlichen Lektüre wird Karma oft als Bumerang gesehen. Googles Definition von Karma lautet: „Du bekommst alles, was Du tust, noch in diesem Leben irgendwann zurück.“ Auch bei Dethlefsen steht das ähnlich. Die Suche selbst war nicht nur schlecht. Affirmationen oder Bücher wie „Der Weg des Künstlers“ entfalten eine positive Wirkung. Aber kann man von punktuellen Erfolgen auf das große Ganze schließen? Wohin geraten wir in letzter Konsequenz mit der Frage, warum sich Menschen für eine Krankheit entscheiden?

In die Abschaffung der Sozialsysteme, der gesetzlichen Krankenkasse. Wie in Amerika. Aus ähnlichen Gründen.

Wann hast du dich für deine Krankheit entschieden? Jetzt, in der aktuellen Corona-Welle bekommt der Satz eine ganze neue Bedeutung.


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Als Studentin der Kulturwissenschaften las ich Max Webers „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, darin steht, wie im Calvinismus Glaube mit Belohnung verknüpft ist. Der Calvinismus sei der Ursprung des amerikanischen Kapitalismus, seines Wertesystems und der dort fehlenden Sozialsysteme. Du hast viel und bist gesund? Dann machst du alles richtig. Du hast nichts und bist krank? Dann hast du das wohl verdient. Amen!

Wir kennen einen orangen Mann, der darauf schwört. Dem wiederum viele dort glauben.

Und in der westlichen Esoterik? Antithese: Wenn man sich für Krankheit entscheiden kann, kann man sich auch für Gesundheit entscheiden. Darin steckt der Glaube an unmittelbare Belohnung für das „richtige“ Leben, in Form von Gesundheit und Wohlstand. Esoterik als Blaupause des Calvinismus. Calvinismus als Blaupause des Kapitalismus.

In Deutschland werden jährlich 600 Millionen Euro für homöopathische Produkte ausgegeben, der Esoterik-Markt selbst wird auf ein Volumen von rund 20 Milliarden Euro geschätzt. Menschen fühlen sich von Wissenschaftlern manipuliert, nicht aber von Werbespots für Bachblütendragees.

Als Krimiautorin frage ich bei einem Verbrechen, wem es nutzt. Die Diskreditierung der Wissenschaft nutzte der Pharmaindustrie, den zersetzenden Tendenzen der Demokratie und selbsternannten Experten. Die Pharmaindustrie hat längst die größten Einnahmen in Mittelchen entdeckt, die keine Krankheit voraussetzen. Der Siegeszug der Vitamin-Präparate begann mit massiver Bewerbung nach der Wirtschaftskrise im zwanzigsten Jahrhundert, als Einnahmen zu schwinden drohten.

Als Krimiautorin kenne ich auch den Terminus: Folge dem Geld. Ist es Betrug, wenn Mission und Verdienst sich verbinden?

Der Glaube an sein eigenes Produkt macht gemeinhin den Verkäufer besser.

Der Buddhismus, die vermeintliche Blaupause des esoterischen Karmas, ist dagegen von Verzicht geprägt.

Jeder, der sich nicht impfen lässt, obwohl er könnte, möge doch prüfen, ob er zugunsten eines Menschen in einem unterversorgten Land auf seine Impfdosis verzichten würde, ebenso auf sein potentielles Bett auf einer Intensivstation.

Ich kann mir die Dankbarkeit der Beschenkten vorstellen, ihr Staunen, Weinen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass als abgesicherter Deutscher eine Unterschrift zu leisten, Überwindung kostet. Und möglich ist das ja auch nicht. Wir werden selbst dann noch geschützt, wenn wir uns gegen diesen Schutz entscheiden.

Wir können uns nie sicher sein, nicht manipuliert zu werden. Wir können nur recherchieren, Quellen prüfen. Alles in seiner Konsequenz und auf dem historischen Hintergrund durchdenken.

Brecht schrieb: „Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.“ Ich hatte 2020 die Metapher des Waldes herangezogen, um Zusammenhalt zu illustrieren. Wir saßen alle in einem Boot. Jetzt sind einige von uns am Ufer und andere spielen „toter Mann“, getragen von ihrem Glauben, Bauchgefühl und Misstrauen gegenüber der Wissenschaft. Die populäre Esoterik erreichte einen großen Teil der Bevölkerung, als Menschen von Staat und Kirche enttäuscht waren und damit viel Geld zu verdienen war.  Wissenschaft wurde gleichzeitig so kompliziert, dass sie fast esoterisch anmutete. Denkt mal drüber nach. Ich möchte niemanden fragen müssen: Wann hast du dich für deine Krankheit entschieden?



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