Literarischer Kulturaustausch 2024 – mit Angelika Sinn
In Bewegung – aufbrechen, unterwegs sein, ankommen
Unser Jahresthema 2024 lautete „In Bewegung – aufbrechen, unterwegs sein, ankommen“. Passend dazu haben wir bei einem unserer Treffen einen Silent Walk zur und an der Weser entlang gemacht. Wieder zurück in der Villa Ichon hatten die Teilnehmer*innen dann die Gelegenheit, ihre Gedanken, Empfindungen, Idee und Fantasien zu diesem stillen Fluss-Spaziergang in Worte zu fassen. Hier eine Auswahl.
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Die Weser und ich
Gestern. Der Tag war lang gewesen. Müde und nicht da. Meine Augen taten weh.
Endlich raus. Dort, wo es dunkel ist. Dort, wo ich mich verlieren kann.
Ich blicke über die Weser. Sie liegt da und sagt nichts. Sie rauscht dahin. Unendlich. Endlich. Die kleinen Wellen brechen sich an den Steinen. Den schwarzen.
Ich will noch bleiben. Da sein. Noch nicht zurück ins Helle, wo es Worte braucht, Gedanken, Handlungen.
Ich bleibe, und sie fließt noch immer. Ich rieche das Salz in der Luft. Sie fließt. Leise, ohne dass ich etwas tue.
Ich schließe die Augen und lausche meiner Freundin. Dem Wasser und auch dem kühlenden Wind. Dem Unendlichen.
Wieder gelassen, wieder in Ruhe – die Schwere vergessen. Durch das Immer noch. Durch das große Kräftige, das nicht aufhört und das nicht fragt. Das mich nicht braucht.
Später gehe ich zurück – ins Helle. Ich komme wieder. Immer wieder.
Ein Fluss
Ein Fluss ist immer widersprüchlich, gleichwohl ganzheitlich zu betrachten. Bei einem Fluss denken wir an Abwechslung, er existiert allerdings schon so lange, dass er für uns auch ein Synonym für die Ewigkeit ist. Das Wasser fließt unaufhörlich, der Fluss aber war schon vor zwei oder drei Jahrhunderten da.
Der Fluss kann austrocknen und so flach werden, dass man eine Stadt an anderer Stelle neu gründen muss. Und manchmal bereitet uns Hochwasser Probleme. Der Fluss jedoch bleibt.
Egal, wo ich bisher gewohnt habe - das Meer war 60 km entfernt, und die Flüsse, die darin münden, gaben mir schon immer ein Gefühl der Vereinigung mit Meeren und Ozeanen. Durch die Flüsse kann ich zudem Berührung mit der Geschichte fühlen.
So interessant: Diese fließenden und abwechslungsreichen Flüsse sind etwas, das ich immer seelisch dabeihabe. Man kann nicht allein sein – die Flüsse bieten Chancen, Einsamkeit zu vermeiden, egal, ob es um Transport, Geschichte oder persönliche Erinnerungen geht.
Sehr oft trennt ein Fluss die Menschen: Er ist entweder zu einer natürlichen oder staatlichen Grenze geworden oder sogar zu einer Frontlinie. Dürfen die Menschen einem Fluss das vorwerfen? Wohl kaum!
Ein Fluss ist so widersprüchlich, wie das Leben auf der Erde. Durch tiefe Gewässer sind schon viele Menschen umgekommen, aber die Flüsse ermöglichen es auch, an ihren Ufern zu sitzen und die Tiefe der eigenen Seele genauer zu betrachten. Stilles Wasser kann ein klarer Spiegel des Äußeren sein – und unsere Gedanken, wenn wir am Ufer stehen, spiegeln unsere Innenwelt.
Sobald ein Fluss nicht mehr wichtig für uns ist, wird er zu einem einfachen Naturobjekt.
Wie soll man dazu stehen? Egal! Ein Fluss ist immer widersprüchlich.
Im Gedankenfluss
Am frühen Morgen beginnen sie sich zu regen. Sie strecken sich und gähnen laut. Sie wollen eine Form annehmen, die Stimmungswellen der Nacht einfangen und auf den Weg bringen.
Ein Krug voller Gedanken, aus dem nächtlichen Fluss gefischt. Frische Nahrung für den Tag und seine Aufgaben.
Kurzgefasst, findet jeder Gedankenfisch seinen Platz und seine Wertschätzung. Einige schimmern in der Sonne wie Goldbrassen, einige liegen als Beifang am Ufer. Die Fischer werfen sie wieder zurück ins Meer – zu klein. Die großen werden ausgeschlachtet und den zahlenden Zwischenhändlern überlassen. Sie landen später auf dem Teller. Genuss für Genießer, die es sich leisten können.
Bei guter Qualität sind die Gedanken eine Herzensangelegenheit.
Bewahrt vor dem Ertrinken im ausgedörrten Alltag, glänzen sie ungefragt vor sich hin. Sie klappern wie kleine Windspiele und erzeugen Klänge in den Wellen der bewegten Luft. Sie begegnen der Sehnsucht und umhüllen sie weich. Das Wasser formt sie, doch es weiß um seine Begrenztheit.
Ein fester Posten ankert im Tag. Erfreulich, die Frühstücksrituale daran festzubinden. Kaffee, Tee, Wasser, gar nichts – oder alles später. Die Nahrung findet den Hunger.
Der Fluss lässt sich von all dem nicht stören und gibt den Gedanken ihren freien Lauf, Tag und Nacht.
Der wütende Fluss
Ich spürte die Wut des Flusses in seinem trüben Wasser und seiner düsteren Farbe, sah, wie er weinte und rannte wie ein Geist, der im Meer verschwindet.
Als er noch ein schönes Kind war, kroch er langsam über den Boden.
Die Menschen verspotten diejenigen, die in ihrer Dummheit zu weit gehen, so wie sie jemanden verspotten, der Steine in einen Brunnen wirft, aus dem er trinkt.
Die Krümmung des Flusses steigert seine Schönheit, aber wenn ein Mensch sich verbiegt, steigert das seine Dummheit.
Ich sah die Ufer des Flusses und wurde traurig, weil er so weit von seiner Heimat entfernt ist. Dort wo er geboren wurde, war er rein und lustig, klar und ehrgeizig.
Er war ein Spiegel des Himmels.
Doch je weiter man sich von der Heimat entfernt, desto schwerer wird das Leid und die Last, das Leben zu bewahren.
Der versilberte Strom
In den Flüssen des Nordens fließt das Wasser auf- oder abwärts. Das hängt von der Tide der Nordsee ab und bringt unsere Wahrnehmung durcheinander.
Der versilberte Strom fließt an diesem sonnigen Tag Richtung Meer, mit Lichtbrechungen über den Wellen, wie ein Traum. Das Glitzern tanzt über das Wasser und bewegt sich in meinen Pupillen.
Ich versuche meine Augen mit der Hand zu beschatten. Vergeblich. Es glitzert wie Diamanten im Strom und bringt mir meine Jugend in Erinnerung: In einem weißen Kleid stehe ich in einem See, in kristallklarem Wasser, den Blick auf die Berge gerichtet. Dieses Foto besitze ich noch.
Der Fluss fließt weiter, ich fokussiere meine Augen auf das hellbraune Wasser. Am Ufer stoßen die Wellen auf Steinblöcke und bilden Mäander, in denen Enten ihren Spaß haben.
Es ist ein heller Tag voller Leben. Schiffe fahren auf dem Fluss und Menschen spazieren am Ufer entlang, werden, so wie ich, von der Sonne geblendet. Sie gehen stromabwärts, während der Fluss Richtung Meer fließt.
Ich hätte gerne gewusst:
Wieso fließt der Fluss?
"Alles fließt" - vielleicht deswegen?
Wieso schlagen die Wellen?
Was denkt ein einsamer Fluss im Dunkeln?
Allein auf seinem Weg nach Haus‘!
Aber er spricht es nicht aus
Spielt mit dem Mondschein Katz und Maus
Hast du Lust, es mit mir herauszufinden?
Dich mit mir zu treffen?
Vielleicht am Morgen
Vielleicht in einem Monat
Vielleicht im nächsten blauwarmen Sommer?
Ich erwarte dich am Fuße des Flusses