Mehrere Briefe zu unserem Briefprojekt "Nähe"

Briefprojekt ›Nähe in Zeiten von Distanz‹

Wie schafft man Nähe bei einem Abstand von 1,50 bis 2 Metern und Besuchsverbot? Sind Kurznachrichten oder Skype die Antwort auf Social Distancing? Oder könnte man, in dieser Zeit des gefühlten Stillstands, nicht gleich auf eine aus heutiger Sicht antiquierte Form der Kommunikation zurückgreifen: auf den Briefwechsel, der durch seine entschleunigte Geschwindigkeit wie das Pendant zum gedämmten Geräuschpegel aktueller Städte erscheint? Als bekennende Nicht-WhatsApp-Userin wagte sich die Bremer Schriftstellerin Betty Kolodzy in dieses Experiment.


Bericht von Betty Kolodzy

Ein Briefaustausch zwischen Betty Kolodzy und Bremer*innen in Kooperation mit dem Bremer Literaturkontor. 

Eigentlich war das Ganze eher eine Art Experiment mit ergebnisoffenem Ausgang: Wer würde sich jetzt, wo die Welt gerade mit einer Wucht zum Stillstand kam, schon die Mühe machen, einen Brief zu verfassen, geschweige denn, diesen mit Maske und Abstand in einer Postfiliale aufzugeben oder in einen öffentlichen Briefkasten zu werfen? WhatsApp, Skype, FaceTime und Telefon lassen grüßen.

Doch dann kam alles ganz anders: Als hätten die Briefeschreibenden nur auf den Startschuss zu solch einem Projekt gewartet! Mit dem Bremer Literaturkontor als Adresse und Jens Laloire als Hüter der in Wellen einlaufenden Post („Es kamen vier Briefe an, Betty. Sie sind wieder nur für dich!“), begann der Kontakt mit mir unbekannten Menschen.

Ich bekam Post aus Schwanewede-Neuenkirchen, Sottrum, Cuxhaven, Schönebeck, Bruchhausen-Vilsen, Asendorf, Vegesack, Ritterhude, aus dem Viertel, aus der Neustadt … Von Frauen und Männern in unterschiedlichen Lebenssituationen … Und bis zum Alter von 89 Jahren! Kunstpostkarten (auch eigene Kunst, also die einer Bremer Künstlerin, die ein bezauberndes Gedicht schickte *), Ansichtskarten aus fernen, auf einmal unerreichbar scheinenden Destinationen, grüne, gelbe, rosa Kuverts mit Ernie-und-Bert‑, Blumen- oder dunkelblauen Beethoven-Briefmarken. Handgeschriebene und getippte Zeilen. Zeichnungen und Illustrationen. Eine Audiodatei mit Hörbuch, geschrieben von einer Freundinnen-Clique – inklusive Brief, kunstvoll illustriertem Cover mit Elementen der Story, Fotos und Film zu den Autorinnen.

Fast 50 Zusendungen, die mich zutiefst berührten, die ich auf dem Rückweg vom Literaturkontor wie einen Schatz nach Hause trug, um sie zu gegebener Zeit zu öffnen und zu lesen. Zwei, drei Mal pro Woche holte ich „meine“ Post ab …

ABSTAND!!!!

Keine Sorge: Auch die Briefübergabe folgte einem strengen Ritual, das heute sicherlich Hygienekonzept genannt werden darf. Oder soll. Auch Sprache wandelt sich. Ich erinnere mich an das Wort Seelenhygiene, das mich, als es damals aufkam, auf Anhieb abstieß. Hygienekonzept im Zusammenhang mit Kultur lässt mich erschauern. Auch nach drei Monaten Corona noch. Lesungen, Konzerte, Kino, Theater, Hygienekonzept. Ich denke an das kommende Silvester ganz ohne Tanz.

Um den Corona-Auflagen oder ‑Maßnahmen Folge zu leisten, verabredeten Jens Laloire und ich uns vor dem Eingang der Villa Ichon. Genau genommen in Nähe einer Holzbank unter dem Schattenbaum, von dem sich der Paula-Modersohn-Becker-Steg hinter überbordendem Frühlingsgrün nur erahnen lässt. Auf jene Holzbank legte Jens meine Post und machte ein paar ausladende Schritte Richtung Theater, so dass ich, mich nun Richtung Bank bewegend, die verschlossenen Briefumschläge in Empfang nehmen konnte.

Danach sprachen wir mit gebührender Distanz ein paar Takte, während die Vögel der Wallanlagen zwitscherten. Im Laufe der Zeit, und weil außer der Natur und unserem Sprechen eigentlich gar keine anderen Geräusche zu hören waren (die Menschen blieben zu Hause, die Autos der Poser warteten dort auf bessere Zeiten) entstand eine Art Gleichklang: Natur, Worte, gesprochen und geschrieben. Ja, auch die geschriebenen, noch eingeschlossenen Worte mischten sich in diese Minuten und drängten an die Oberfläche. Das war das Signal zum Aufbruch.

Ich beantwortete maximal zwei Briefe am Tag. Mehr nicht, weil ja die Worte der Schreibenden ihre Wirkung entfalten sollten und ich mich auf sie einlassen wollte.

Neben Menschen, die schon regelmäßig schrieben, fühlten sich viele durch den Aufruf zum Briefaustausch zum ersten Mal dazu inspiriert, eigene Gedanken zu einem Thema (hier: Nähe) in Worte zu fassen.

Sie schickten mir Briefe, in denen sie Persönliches aus ihrem Leben in Bezug auf Nähe schilderten (Das Vertrauen berührte mich sehr), aber auch Gedichte, eine Erlkönig-Adaption, eine philosophische Osterhasigeschichte, magische Naturerlebnisse, Gedankensplitter, Gefühlsbeschreibungen …

Noch heute fühle ich mich den Autorinnen und Autoren der Briefe verbunden, obwohl ich sie noch nie gesehen habe. Vielleicht kenne ich sie nun ein bisschen, und ich glaube und hoffe, dass auch sie mich durch unser gemeinsames Projekt etwas näher kennengelernt haben. Manchmal entdeckte ich Parallelen zwischen den Verfasserinnen und Verfassern untereinander oder auch mir. Das zeigt mir, wie ähnlich wir uns alle doch sind. Oder wie nah.

* „Acht Rosenlängen Abstand“ aus dem Elfchen der Künstlerin Angelika Bruns wurde am 2. Mai 2020 zur Headline in Katharina Frohnes Artikel im Weser Kurier

Porträt von Betty Kolodzy
© Kerstin Rolfes

Betty Kolodzy lebt als freie Autorin in Bremen. Zusammen mit dem Tänzer und Choreografen Tomas Bünger inszenierte sie ihren Erzählband „Istanbul Walking“ im Theater Bremen. Für ihren Roman „Lux und Leben“ erhielt sie das Bremer Autorenstipendium (2013), ein Jahr später den Wiener Werkstattpreis und das Residenzstipendium des Bremer Literaturkontors in den Künstlerhäusern Worpswede für den Roman „Im Sommer kommen die Fliegen“. Darüber hinaus lehrt sie Kreatives Schreiben an Universitäten, Schulen und in Übergangswohnheimen. 2016 initiierte sie das Projekt „Heimat: Sprache für Menschen mit Fluchthintergrund“. 2019 erhielt sie für „Heimat: Sprache für geflüchtete Frauen“ den ersten Bremer Frauenkulturförderpreis des Senators für Kultur.

Stapel von mehreren Briefen in Umschlägen
© Rike Oehlerking

Von den Briefen hat Betty Kolodzy sich zur folgenden Collage aus Brieffragmenten inspirieren lassen (mit freundlicher Genehmigung der Autor*innen und einem herzlichen Dank an diese*)

Ohne deine Berührung

Wer spuket herum durch Raum und Wind, verbreitet sich rasant, geschwind … Und dann war Ruhe. Corona hat die Welt an die Kette gelegt. Nach kurzem Innehalten und Erstaunen übernehmen die Vögel. Der Fischreiher steht mit langen Beinen auf dem Dach. Wie in Trance überwacht er das Geschehen. Man ist den anderen zugewandt und lässt doch eine Distanz, eine respektvolle Grenze. Aber heute, mit steigenden C‑Infiziertenzahlen: viele Blicke, die sich abwenden schon vor der Pflichtdistanz. Vielleicht überdeckte die übliche Umarmung auch einiges? Neulich, schreibst Du, hättest Du eine Freundin in aller Öffentlichkeit umarmt. Wie mag sich das angefühlt haben? Und spürtet ihr nicht die Blicke aus 1,5 Metern Entfernung? Unverantwortlich, wie Du selber findest, aber die Wiedersehensfreude nach Wochen der Isolation … In deutlichem Abstand, jedoch nah genug. Wäre das nicht auch eine Möglichkeit gewesen? Eine Freundin in aller Öffentlichkeit umarmt … Ungeheuerlich! Wenn Du‘s wenigstens gehalten hättest wie der nette Verkäufer im Blumenmeer: acht Rosenlängen Abstand. Prall entfaltete Blüten. Tief rot violett. Betörend ihr Duft.

Pfingstrosen im Glas, im milden Abendlicht. Die Verbindung zu Menschen in aller Welt, ohne einander zu kennen oder je getroffen zu haben. Nähe ist mehr als eine Dimension im Raum, in dem uns die Worte bleiben. Lass mich Dein warmes Atmen hören. Nimm dann von mir das Schweigen und trage es bis in die schwarze Stille.

*Jürgen Bosse, Peter Böhme, Angelika Bruns, Tomas Bünger, Albrecht Clauß, Gerlind Eiw, Waltraud Fitschen, Elisabeth Herrmann, Friederike Hermanni, Kay Ketelsen, Ingrid Kenner-Maucher, Elke Stein

Ein handgeschriebener Brief der mit "Liebe Betty" beginnt
© Rike Oehlerking

Viele berührende, kreative und teilweise auch sehr persönliche Briefe haben uns im Rahmen des Briefaustauschs erreicht, deshalb veröffentlichen wir an dieser Stelle mit der freundlichen Genehmigung der Autor*innen ein paar ausgewählte Auszüge aus ihren Briefen.

aus einem Brief von Beate Schwarz

… Wie für viele hat diese Kontaktsperre zwei Seiten: Die Bedrohung durch die Krankheit auf der Welt – und das reicht von schrecklichen Szenarien in weiten Ländern und Sorge um ganz vertraute „Vorerkrankte“ und Alte, und die andere Seite: Die verordnete Auszeit, mit vielen Freiheiten.

Aus dem Abstand erscheint ja vielen in neuem Licht: Was vermisse ich gar nicht, von dem ich es dachte? Eine kleine Reise nach Wangerooge war geplant, eine Geburtstagsfeier, Besuche – nichts davon – herrlich, ich brauche keine Tasche zu packen, keine Zugverbindung rauszusuchen.

Ich säe Blumen aus und freue mich über kleine grüne Stengel, die schon bald eine Idee von sich aufkeimen lassen. Und beim Wachsen kann ich fast zusehen.

Den Amseln beim Baden.

Den noch fast vollen Mond beim Wandern über den Himmelsbogen.

Und ich suche mich am Himmel zurechtzufinden:

Der Orion noch tief am Westhimmel, die Venus leuchtet so hell wie selten im Stier …

Manchmal, wenn ich früh aufstehe, um meine Katze rauszulassen, leuchtet der rote Mars im Südosten. Über Venus und Mars freuen wir uns ja immer besonders, wenn wir sie sehen, weil sie so „nah“ sind!

Nähe hat gar nichts mit Entfernung zu tun!

aus einem Brief von Peter Böhme

Im Begriff der
Pfingstrosen im Glas
prall entfaltet die Blüte
tief rot violett

Betörend der Duft
leicht und sanft die Berührung
der menschlichen Hand
bleibt doch Fremdheit ganz nah dran
Un-begriff-nes Erstaunen

aus einem Brief von Kay Ketelsen

Zichorie (Wegwarte)

Wenn die Zichorie blüht
seh‘ ich nur dich meine Frau
Hellblau am Wegrand stehst du
aufrecht im blauen Gewand und
immer noch bist du mir nah

Wenn die Zichorie welkt
seh‘ ich dein seidenes Kleid
weiß ist es lebloses Weiß
andächtig bleibe ich steh’n und
nah kommt mir wieder dein Tod.

Für Hanne

aus einem Brief von Hannelore Skiera (89 Jahre alt)

… „Nähe“ ist für mich ein großes Thema. Seit ich mir Gedanken darüber mache, was ich eigentlich als das Schönste für mich im Leben ansehe, bin ich bald zu der Feststellung gekommen, das Beglückendste sind die Menschen, die ich lieb habe und die mir wichtig sind. Diese Überzeugung zieht sich als roter Faden durch mein langes Leben.

Wenn ich zurückdenke, durch alle Phasen: Kleinkindheit, Schulzeit, Jugendzeit nach dem 2. Weltkrieg in Jugendverbindungen, evangelisch geprägt, und ebensolcher Gemeindearbeit, einen großen Freundeskreis, der heute noch im Kern besteht, in 11-jähriger Ehe und Familienarbeit, in vorheriger, selbständiger Berufsarbeit, in der Friedensbewegung während des sogenannten Kalten Krieges (80-er Jahre).

Ich bin vielen Menschen begegnet, habe mit vielen Leuten zusammen jeweils etwas gemacht. Ich bin sicher, gegenseitige Wertschätzungen haben viel mit Nähe zu tun. Nähe zu Menschen ist es wohl, was ich als Schönstes im Leben empfinde. Und es so erlebt zu haben und noch so zu erleben, bedeutet für mich, einen großen Reichtum zu besitzen, der mir nicht weggenommen werden kann.

Materiell bin ich nie reich gewesen, aber durfte mit gesunden Kindern in einem eigenen Haus leben, das ich seit vielen Jahren zur Hälfte vermietet habe.

Mein langes Alleinleben hat wohl auch dazu geführt, mich nach Menschen umzusehen, welches mir jeweils zur Zeit der Kontaktaufnahme gar nicht bewusst war. Es ist mehr eine nachträgliche Einordnung.

Übrigens habe ich auch viel ehrenamtliche Arbeit geleistet, hauptsächlich in Zusammenhang mit meiner Kirchengemeinde und dabei mich als Lernende und Herausgeforderte erlebt.

Ich habe niemals Einsamkeit empfunden und schon gar keine Langeweile. Dazu hat wohl auch mein Riesengarten beigetragen, der das Haus umgibt, und in dem ich immer noch was tue, wenn auch sehr langsam.

Diese Lebensgeschichte mit so vielen lebendigen Erfahrungen mit Menschen und die Möglichkeit des Telefonierens lässt eben auch jetzt die Corona-Krisenzeit gelassen erleben.

aus einem Brief von Friedhelm Farin

Nähe
Nähe sucht Schutz, sucht Trost,
Berührung und Geborgenheit,
sie meidet den schmerzhaften Druck.

Nähe ist mehr als der Hauch am Ohr,
das Geräusch des Atems vor dem Traum.

Nähe misst nicht bloß Zentimeter,
geschweige ein Meter fünfzig bis zwei Meter,
wo sich ihr Mangel jetzt sogar in Fürsorge wandelt.

Nähe ist immer auch das Teilen von Gemeinsamkeiten,
Idealen und Hoffnungen
Anteilnahme und Hilfsbereitschaft,
innere Offenheit, im Geiste aufeinander zuzugehen.

So ist sie mehr als eine Dimension im Raum,
zugleich auch ein Maß der Zeit
und hier zuerst im Jetzt,
erst danach im bedachten rückwärtsgewandten Blick.

Und manches Mal sehnt sie sich auch hoffnungsvoll
nach dem Morgen.

aus einem Brief von Angelika Bruns

Allein
im Blumenmeer
der nette Verkäufer
hält acht Rosenlängen weit
Abstand

aus einem Brief von Jürgen Bosse

Die Stadt ist leer, die Straßen still – in der Nacht. Corona hat die Welt an die Kette gelegt. Selbst Touris sind dem Marktplatz fern, nur Handwerker und Hundebesitzer ziehen ihre runden. Wo die ganze Welt zwei Meter Abstand hält, ist die körperliche Nähe im Cockpit eines Transporters etwas ungewohnt Sonderbares. Ist die Nähe zu dem Nebenleut‘ auf der Sitzbank in der Straßenbahn etwas Besonderes aus unwirklichem Gestern – fast schon kuscheln.

aus einem Brief von Ingrid Kenner-Maucher

Liebe Frau Kolodzy,

ich schreibe gerne Briefe und bekomme gerne Briefe. Das ist leider sehr selten geworden!

Das Thema „Nähe beschäftigt mich sehr, besonders jetzt in der Coronakrise. Ich vermisse meine Familie, meine Freunde und Bekannten, ihnen zu begegnen, so ganz persönlich, einschließlich einer herzlichen Umarmung. Berührung schafft Nähe, und die ist durch die Medien und das Internet nicht zu ersetzen, aber z. Zt. ein gutes Hilfsmittel, um sich vor der persönlichen Isolation bestenfalls ein wenig zu schützen.

Nähe ist auch Verbindung zu Menschen in aller Welt, ohne einander zu kennen oder sich je getroffen zu haben. Wir sind auf diesem Planeten miteinander verbunden, leben von dieser Erde und mit dieser Erde, von Luft, Wasser, Sonne und Mond, sitzen alle in einem Boot und mit gleichen Grundbedürfnissen. Das fordert uns zur Rücksichtnahme heraus, was manchmal in vielfacher Hinsicht sehr, sehr schwer zu sein scheint. Gerade jetzt!

Dies sind ganz spontan geschriebene Zeilen und hoffentlich gut lesbar!

Herzliche Grüße, in Verbundenheit

Ingrid Kenner-Maucher

Schweig still mein Herz
die Bäume beten.
Ich sprach zum Baum:
erzähl mir von Gott
und er blühte.

R. Tagore

aus einem Brief von Julia Sollbusch

Das Huhn und das Ei

Die Straßen und Wege waren ungewohnt (und herrlich!!) leer; Osterhasi genoss diese Ruhe und alleine unterwegs zu sein. Große Ansammlungen von Menschen, Tieren und auch Hasen waren einfach nicht sein Ding. Man war das ein Tumult auf der gestrigen Betriebsversammlung, als die Routen und Aufgaben verteilt wurden. Alle standen dicht an dicht und es herrschte eine Lautstärke, dass man kaum seinen eigenen Gedanken hören konnte. Nähe wird überschätzt, dachte Osterhasi. Und dann diese Rumzickerei von Huhn und Ei! Jedes Jahr dasselbe … ich war zuerst da, nein ich, nein ich, nein ich … Osterhasi bremste abrupt ab, um zwei kleine Gänseblümchen wegzuknabbern, die sich ihm zu verlockend entgegenreckten. In diesem Moment stieß die Sonne durch zwei Baumwipfel und kitzelte sein kleines Näschen. Osterhasi nieste kurz, setzte sich in eine kleine Rasenmulde und blickte versonnen auf den Morgentau, der sich unter den Sonnenstrahlen erwärmte und in Millionen silbernen Tropfen auf der Wiese verteilte … sieht aus wie ein Meer, dachte Osterhasi. Und überlegte: ist es nicht schlussendlich immer eine Frage der Perspektive? Oder gar eine philosophische Betrachtung? Wer war zuerst da? Das Huhn oder das Ei? Sein oder nicht sein? So nah und doch so fern – so fern und doch so nah? Distanz und Nähe? Welche Rolle nehmen Raum und Zeit und soziale Beziehung ein? Welche Bedeutung wird ihnen gewährt?

Eigentlich auch egal, dachte Osterhasi, während er aufstand und sich ein paar Tropfen von den Vorderpfoten schleckte. Läuft es am Ende nicht immer auf Yin und Yang hinaus? Auf zwei Gegensätze, die sich anziehen und ergänzen? Jeder muss für sich herausfinden, was und wie viel gut für ihn ist. Und Hauptsache, man ist mit dem Herzen dabei. Er jedenfalls war es.

aus einem Brief von Albrecht Clauß

Für mich bietet die vernunftgebotene Distanz zu den Mitmenschen zumindest in den alltäglichen Begegnungen wie auch in meiner Lieblingsaktivität, dem zeitgenössischen Tanz*, die neue Möglichkeit, die anderen aus einer gewissen Entfernung wahrzunehmen, die Beziehungsqualität evtl. neu zu definieren (vielleicht überdeckt die übliche Umarmung auch einiges …), und, insbesondere beim Tanz, eine Nähe aus der Distanz zu entwickeln, die nach meinen Erfahrungen sehr beglückend sein kann.

Im übrigen hat mir der Satz von A. Maggauer Kirsche sehr gefallen: „Wenn du etwas nicht erkennen kannst, bist du vielleicht zu nah dran.“

*beschränkt sich z.Zt. leider auf Solos im Wohnzimmer!

aus einem Brief von Irmgard Majer

Lächeln
im Park,
früher oft mit
Unbekannten getauscht im Vorübergehen,
heiter.

Heute
mit steigenden
C.-Infiziertenahlen: viele Blicke,
die sich abwenden schon vor der
Pflichtdistanz,
als ob
Blicke ansteckender
wären als Atem.

Ich rufe die Revolution aus:
Infiziert alle mit dem Virus Freundlichkeit,
durch Lächeln,
und Blicke.
Ich hoffe, dass es dabei
wenig davon Genesene geben wird.

Ein Briefumschlag ans Literaturkontor adressiert
© Rike Oehlerking

Zwei Briefe am Tag beantwortete Betty Kolodzy und reagierte in ihnen mit derselben Offenheit, die ihr in den Anschriften entgegen gebracht wurde. Eine Auswahl ihrer Antworten lesen Sie hier:

Vom 2. April 2020

Sehr geehrter Herr Clauß,

bitte erschrecken Sie nicht, weil ich Ihnen keinen handschriftlichen Brief schicke. Meine Schrift ist ziemlich unleserlich (teilweise auch für mich), so dass ich seit über 20 Jahren Briefe tippe, dafür aber im 10-Finger-System, blind.

Ihr Brief hat mich in verschiedener Hinsicht sehr gefreut. Türkise Tinte (oder Petrol?) in einer Typografie, die so gleichmäßig und schön daherkommt: großzügig und luftig, ausgewogen. Raum zwischen den einzelnen Lettern und Worten. Abstand und Nähe.

Sie bezeichnen sich als passionierten Briefeschreiber und ich frage mich, ob Ihre Zeilen immer in Türkis oder auch in anderen Farben auf die Reise gehen. Die Farbe Türkis hatte mich einen längeren Lebensabschnitt begleitet und stimmt mich auch heute noch positiv.

Ihre Lieblingsaktivität, den zeitgenössischen Tanz, teilen wir in gewisser Weise. Doch während Sie ihn aktiv ausüben, genieße ich ihn vom Zuschauerplatz aus. Letztens sogar in einer der vorderen Reihen an der Bühne, wo man auch das Atmen der Tänzer wahrnehmen konnte und die ungeheure Kraftanstrengung und Konzentration beinahe hautnah miterlebte, die sich aus der Distanz in scheinbare Leichtigkeit verwandeln.

Während Sie im Wohnzimmer tanzen, spaziere ich draußen herum und beobachte mich und die anderen Passanten beim Ausweichen. Ich kann Slalom laufen. Dem Polizeiwagen, der am Osterdeich Streife fährt, weiche ich allerdings viel zu früh aus und verringere damit ungewollt den Abstand zu zwei Jugendlichen, die sich, dem Gebot der Stunde entsprechend, auf zwei Bänken sitzend unterhalten. Das Slalomlaufen habe ich über mehrere Jahre während meiner täglichen Weserspaziergänge trainiert, das Ausweichen vor Inlinern, Radfahrern, Walkern, Spaziergängern, Hunden und Krähen.

Unsere Fortbewegung im öffentlichen Raum kommt mir seit den Ausgangsbeschränkungen vor wie eine einstudierte Choreografie. Oder mehr oder weniger einstudiert, manchmal lose und offen, so dass jedem Einzelnen genügend Raum bleibt, sich und seine Persönlichkeit in das Stück einzubringen. Ich begebe mich also gedanklich in die Vogelperspektive (z.B. auf den Turm des Bremer Doms) und beobachte dieses Treiben da unten, das, säße ich auf einem Platz im Publikum, mir nur logisch erschiene. Nachvollziehbar, und auch sonst bleibt doch nach dem Besuch des Tanztheaters genügend Raum für eigene Interpretationen bzw. das intensive Gefühl, das sich einstellt. Doch aus der Nähe bzw. aus dem Involviertsein ins Ganze, Seltsame, fühlt es sich merkwürdig an. Manchmal auch unerträglich, wie schnell man auf der Hut ist. Vor seinen Mitmenschen!

Es bekümmert mich, wenn ich, als schalte sich ein automatischer Hebel um, auf Abstand gehe, vielleicht sogar noch eine verärgerte Grimasse ziehe, weil wieder welche zu zweit oder zu dritt (ein Hund als Begleiter) an mir vorbeigehen und nicht mal der rettende Radweg die 2 Meter Abstand hergibt.

Was für verrückte Gedanken. Wie verändern wir uns gerade, wie mutieren wir zu menschenscheuen Wesen? Es ist ja nicht so, dass ich ein Fan von Gedränge wäre oder von Massenveranstaltungen, ich bin meist sogar sehr gerne alleine, aber dieses das-Weite-vor-den-Mitmenschen-Suchen, lässt mich zu dem Schluss kommen, dass auch ich ein Herdentier zu sein scheine.

Sie tanzen nun alleine im Wohnzimmer, aus der Distanz zu den anderen. Zu Ihren Mittänzern, die Sie zur Zeit auf Ihrem Bildschirm sehen? Sie werden also aus der Ferne zu einem Teil des Ganzen?

Der Artikel „In weiter Ferne so nah“, der mit seinen Fotos aus den (Kunst-)Museen die obere Hälfte Ihrer ersten Seite schmückt, passt tatsächlich zum Briefaustausch. Ob vom Weser Kurier geplant oder nicht, kann ich leider nicht sagen.

Und während ich nun auf mein Getipptes blicke, mit etwas Abstand, mutet es doch beinahe Türkis an. Oder Petrol.

Vielen Dank für Ihre Inspiration und Zeit!

Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüßen
Betty Kolodzy

Vom 3. April 2020

Liebe Christine Netsch,

vielen Dank für Ihren Brief, Ihren schönen Text und die guten Wünsche.

Ihre Gedanken und Gefühle haben mich sehr berührt, sogar zum Weinen gebracht. Ich musste an einen lieben Verwandten denken, der vor einiger Zeit verstarb, in dessen letzten Stunden, Tagen und Wochen wir das Glück hatten, bei ihm zu sein.

Wie muss es Angehörigen und Freunden schwerkranker Menschen heutzutage gehen?

Ihre Worte erinnerten mich auch an geflüchtete Menschen, die mit ihren Verwandten, manchmal den Eltern und/oder Geschwistern, manchmal über Jahre und Tausende von Kilometer entfernt, nur über das Smartphone verbunden sind.

In solchen Situationen erkennt man die positiven Seiten heutiger, oft geschmähter, Technologien. Sie verbinden, doch in eingeschränkter Weise, wie Sie das eindrücklich schildern. Es werden nicht alle Sinne miteinbezogen, was fehlt sind die Düfte und das Berühren, das Wahrnehmen von Atmosphäre … Selbst Geräusche scheinen in Ermangelung von Nähe absurd: Kürzlich bemerkte ich den Gesang eines Spatzen, der auf einem kanariengelben Forsythienstrauch saß, während ich mich mit einem Bekannten (2 Meter Abstand auf schmalem Gehweg) unterhielt, der mir erzählte, wie sehr seiner Frau und seinen Kindern die Isolation zu schaffen mache. Der Spatz zwitscherte ungerührt weiter – so fröhlich und optimistisch seine Melodie — doch der Forsythienstrauch wirkte auf einmal grell, der Himmel zu blau, die Corona-Ausnahmesituation erscheint mir manchmal immer noch wie ein surrealer Film mit gewaltiger Überlänge. Vielleicht könnte man sie als Aufgabe begreifen, sich in Demut zu üben. Oder in Geduld. Oder … Was meinen Sie?

Ihnen, Ihrem Mann und Ihrer Familie, besonders dem Nacktschneckenfan, alles erdenklich Gute und ganz viel Gesundheit und Glück!

Mit herzlichen Grüßen
Betty Kolodzy

Vom 16. April 2020

Liebe Frau Rädisch,

vielen Dank für Ihre abwechslungsreiche Post.

Da Sie die Villa Ichon ja gut kennen, möchte ich Ihnen kurz die Übergabe der Briefe schildern:

Alle zwei, drei Tage mache ich mich zu Fuß auf den Weg durch das entschleunigte, zurzeit nur von wenigen Menschen frequentierte Steintor Richtung Goetheplatz. Draußen vor der Villa rufe ich Jens Laloire (meist ist ein Fenster geöffnet) und warte mit gebührendem Abstand (mindestens eins fünfzig rückwärts), bis Jens die Treppe herunterkommt, meine (Ihre) Briefe auf die Holzbank legt und zwei Meter zur Seite tritt, dabei aber auf seiner Geraden bleibt.

Anschließend unterhalten wir uns auf Abstand. Nur ein paar Minuten, während ein eisiger Wind von den Wallanlagen Richtung Theater pfeift. Seltsamerweise liegt der Ort der Briefübergabe jedes Mal im Schatten, egal zu welcher Tageszeit. Doch es gibt einen Lichtblick: ein kleines Fleckchen Sonne auf dem Trottoir, drei Meter entfernt, samt sich bewegendem Blättermosaik.

Mit den Briefen unter dem Arm schlendere ich nach Hause, und es bereitet mir das allergrößte Vergnügen, sie zu lesen. Zum Beispiel, dass Sie und Ihr Mann mit Ihren 300 Meter entfernten Nachbarn zurzeit telefonisch kommunizieren. Ich frage mich, ob Sie dabei vor Ihren Häusern stehen oder im Garten. Ob Sie sich zuwinken. Sieht man sich auf diese Entfernung überhaupt?

Dass Sie Ihren alleinstehenden Nachbarn mit Hühnersuppe versorgen, finde ich ganz wunderbar. Zufälligerweise lag heute früh vor meiner Tür eine Bäckertüte mit zwei frischen Croissants und eine Packung Earl-Grey-Tee. Ich glaube zu ahnen, dass sie von meiner französischen Nachbarin stammen, der ich kürzlich zu Ostern etwas an die Tür hängte.

Es ist eine wirklich verrückte Zeit. Aber irgendwie auch schön. So still … Dann kommen einem wieder die vielen Schattenseiten in den Sinn.

Ich hoffe auch, dass Ihre Aiysa ohne Sie weiter lesen übt, ich denke, es ist eine sehr schwierige Zeit für geflüchtete Menschen. Meine jungen Englischschüler, die in beengten Wohnverhältnissen in einem Übergangswohnheim leben, werden sicherlich sehr zurückfallen in ihren Leistungen. Das tut mir sehr Leid. Ich frage mich sowieso, welche Spuren die Isolation und Enge hinterlassen werden.

Ihr Gedicht „Sonnenuntergang“ lässt so viele Bilder im Kopf entstehen. Ob die beiden Alten mit zwei Meter Abstand auf einer Parkbank sitzen?

Ich hoffe, es gibt bald wieder kulturelle Ereignisse, über die Sie berichten können.

Auf jeden Fall aber erst einmal viel Freude und Erfolg bei der Aussaat der Blühwiesensamen!

Herzliche Grüße
Betty Kolodzy

Vom 28. April 2020

Liebe Ria Helmstorff,

vielen Dank für Ihren Brief und Ihre ganz besondere Begegnung.

Beim Lesen hatte ich das Gefühl, ich hätte diese schöne und doch auch traurige Situation selbst erlebt. Ich sah ihn vor mir sitzen, den kleinen Affen, blickte in seine Augen.

Kennen Sie Fipps, den Affen, von Wilhelm Busch? Er war einer meiner Kindheitshelden. Soweit ich mich erinnere, war er stets zu allerhand kreativen Streichen aufgelegt. Allerdings gab es auch eine brutale Szene, in der er jemandem mit einer Friseurschere in die Nase schnitt. Oder so ähnlich. Und sicherlich war diese unsanfte Behandlung als Reaktion auf eine Ungerechtigkeit zu sehen, die ihm selbst widerfuhr. Ich müsste da mal nachforschen. Ich hätte ihn doch beinahe vergessen.

Interessant fand ich auch, dass es sich Ihre Katze auf Ihrem Schoß gemütlich macht, während draußen die ersten Vogelstimmen ertönen.

Bis dahin einen herzlichen Gruß und viele intensive Begegnungen!

Vom 3. Mai 2020

Liebe Friederike Hermanni,

vielen Dank für Ihre subversiven Gedichte, für den Zutritt zu den Ziertürmen Ihres Gehirns – wenn das Mutti wüsste!

Ich dachte kürzlich an Umsturz, nach Wochen des Hinterfragens der Maßnahmen, nach den Zweifeln, ob denn da wirklich ganz genau recherchiert und nicht alles nur von einer von Bildern (ich schaue nicht fern) oder wenig aussagefähigen Zahlen geleiteten Angst übereilt entschieden wurde. Seit zwei Tagen scheine ich weichgeklopft, es dauert wohl sechs Wochen, bis man sich an allerhand widernatürliche Zustände gewöhnt … Ich arrangiere mich mit dem Ganzen, probiere, das Beste daraus zu machen – und habe sogar angefangen zu kochen! Es macht immer noch keinen Spaß, doch vergeht so Stund‘ um Stund‘, entsteht Sahne, wo kein Mixer, nur ein defekter Pürierstab.

Ich bin sozusagen eins geworden mit der verordneten Angst. Werde in meiner Isolation nie wieder meine Friseur-Freundin anrufen, werde mir anhand eines Netz-Tutorials das Haareschneiden beibringen. Alles höchstpersönlich und höchstprofessionell.

Ansonsten Briefe und telefonieren – oder Ihren schönen Blog überfliegen. Und ich war mehr als erstaunt, als ich dort vorhin zwei meiner nächtlichen Traumorte, die vor ein paar Tagen in einen Text wanderten, in Ihrem „Auf Gedeih und Verderb“ wiederfand: den Englischen Garten und das Amphitheater!

Irgendjemand hatte mir gestern oder vor 25 Jahren in Berlin von morphogenetischen Feldern erzählt. Ich habe nie näher recherchiert, sondern mir das Ganze nur vorgestellt, so wie sich auch heute jeder seine Theorien und Realitäten zusammenbastelt.

Es ist die Zeit der Fiktion! Vielleicht auch der Gruselromane … Hoffentlich können wir die Richtung noch mitentscheiden.

Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüßen
Betty Kolodzy

Vom 3. Mai 2020

Liebe Friederike Hermanni,

vielen Dank für Ihre subversiven Gedichte, für den Zutritt zu den Ziertürmen Ihres Gehirns – wenn das Mutti wüsste!

Ich dachte kürzlich an Umsturz, nach Wochen des Hinterfragens der Maßnahmen, nach den Zweifeln, ob denn da wirklich ganz genau recherchiert und nicht alles nur von einer von Bildern (ich schaue nicht fern) oder wenig aussagefähigen Zahlen geleiteten Angst übereilt entschieden wurde. Seit zwei Tagen scheine ich weichgeklopft, es dauert wohl sechs Wochen, bis man sich an allerhand widernatürliche Zustände gewöhnt … Ich arrangiere mich mit dem Ganzen, probiere, das Beste daraus zu machen – und habe sogar angefangen zu kochen! Es macht immer noch keinen Spaß, doch vergeht so Stund‘ um Stund‘, entsteht Sahne, wo kein Mixer, nur ein defekter Pürierstab.

Ich bin sozusagen eins geworden mit der verordneten Angst. Werde in meiner Isolation nie wieder meine Friseur-Freundin anrufen, werde mir anhand eines Netz-Tutorials das Haareschneiden beibringen. Alles höchstpersönlich und höchstprofessionell.

Ansonsten Briefe und telefonieren – oder Ihren schönen Blog überfliegen. Und ich war mehr als erstaunt, als ich dort vorhin zwei meiner nächtlichen Traumorte, die vor ein paar Tagen in einen Text wanderten, in Ihrem „Auf Gedeih und Verderb“ wiederfand: den Englischen Garten und das Amphitheater!

Irgendjemand hatte mir gestern oder vor 25 Jahren in Berlin von morphogenetischen Feldern erzählt. Ich habe nie näher recherchiert, sondern mir das Ganze nur vorgestellt, so wie sich auch heute jeder seine Theorien und Realitäten zusammenbastelt.

Es ist die Zeit der Fiktion! Vielleicht auch der Gruselromane … Hoffentlich können wir die Richtung noch mitentscheiden.

Mit den besten Wünschen und herzlichen Grüßen
Betty Kolodzy

Stapel von mehreren Briefen in Umschlägen
© Rike Oehlerking

Ein Gedicht von Beate Schwarz

Eisvogel

Nur wenige kommen zusammen
zum Fest im Corona-Jahr
Bildschirmbotschaften, das Bangen.
nur raus: die Wümme ist nah.

Mildes Licht, ein matt-grünes Gebiet
still, im blassen Gras kein Wind -
nur leise der Fluss, der weiterzieht.
kaum Leute, ein Hund, ein Kind.

Der Blick über den Graben, ein Ast
darauf: eine Silhouette, starr, genau
schnell das Fernglas gefasst:
ein Eisvogel: Türkis, Kupfer und blau!

Die Leute bleiben stehen: oh ja!
ein Edelstein im Schlichten!
Bäche und Steilufer sind rar -
fast wäre er nicht mehr zu sichten.

Nur wenige kommen zusammen
zum Fest im Corona Jahr.
Sie sehen kurz, fast befangen:
Die Erde: wie wunderbar.

3 Gedichte von Friederike Hermanni

1

Berührung
hatte etwas
mit Hautkontakt zu 
tun das war schön
damals

2

Wenn du nach oben
in die Kamera schaust blickst
du mir ins Auge

 3

Den ganzen Tag im
digitalen Morgen wer
küsst mich heute Nacht?

Im Dezember 2020 setzten wir gemeinsam mit Betty Kolodzy das Briefprojekt fort. Erneut kam es zu einem regen Briefwechsel zwischen der Autorin und schreibfreudigen Teilnehmenden. Zwei Gedichte sowie Auszüge aus Betty Kolodzys Antworten sind an dieser Stelle dokumentiert.

Vom Dezember 2020

Liebe Beate,

...

Zu den gelben Reclam-Heften: Sie erinnern mich an grausliche Deutschstunden mit fürchterlichem Lehrer, schlechten Noten und langweiliger Lektüre - zumindest während meiner wilden Jugend hatten mich weder Kabale und Liebe noch Iphigenie auf Tauris interessiert. Ich denke, es lag am (uralten, strengen) Lehrer. Den wir leider auch in Geschichte (Jahreszahlen zu für uns abstrakten Ereignissen auswendig lernen) hatten. Kennen Sie das?

Zu Reclam: Was ich hier liegen habe (und mangels Zeit gleich wegräumen werde), sind die orangenen Reclam-Heftchen, die ich mir vor – hui, sind wohl schon 20 Jahre!!! -n gekauft hatte, als ich noch im Russischlernen steckte. Links kyrillisch, rechts Deutsch: Puschkin, Tschechow, Gogol. Selbstverständlich ging es links eher ums Wiedererkennen von Vokabeln und Syntax oder ums Lautlesen. Aber ich glaube mich zu erinnern, dass mir dafür die Zeit oder die Geduld fehlte.

Nun wollte ich letztes Jahr wieder mit dem Russisch beginnen, nachdem ich mit dem Arabisch aufhörte oder es auf Eis legte – doch seit Corona habe ich mit beidem abgeschlossen: man trifft eh niemanden mehr und man fährt nirgendwo hin, nicht mal nach Vegesack, das ich so liebe.

Dafür habe ich gestern Nachmittag drei Stunden lang auf Deutschlandfunk Kultur online „Die lange Nacht über den Polarforscher Alfred Wegener“ gehört (zur nächtlichen Sendezeit bis 2 Uhr am Samstag war mir zu spät) und möchte Sie Ihnen gerne empfehlen, genauso wie Anna Seghers Roman „Transit“.

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Lieber Herr Clauß,

vielen Dank für Ihre Post! Ich habe mich sehr gefreut, als ich Ihren Briefumschlag in den Händen hielt – und ihn mit dem neu erworbenen Brieföffner aus Eichenholz öffnete. Ihre Voltaire‘sche Kalligrafie übrigens befindet sich immer griffbereit in Schreibtischnähe.

Nun also die Textura! Sie scheinen die Coronazeit optimal zu nutzen, und jetzt klinge ich wie meine eigene Großmutter, wenn ich erzähle, dass ich den geflüchteten Teilnehmerinnen meiner Workshops (keine Angst: bei geöffneten Fenstern, im Wintermantel, mit Abstand und viel Desinfektionsmittel!) auch immer ans Herz lege, das Beste aus der Situation zu machen. Das Beste aus meiner Sicht: lernen, lesen, sich weiterbilden, um hinterher nicht zu sagen: Ach, hätte ich die Zeit doch besser genutzt.

Vorsicht und Misstrauen ... Letzteres schleicht sich langsam in unser Wesen ein, ich sage, „in unser“, denn auch ich ertappe mich das ein oder andere Mal bei Gedanken, die ich lieber abschütteln möchte, weil ich nicht will, dass sie ein Teil meiner Persönlichkeit werden. Oder womöglich schon immer waren, und jetzt an die Oberfläche drängen. Hoffentlich können wir das alles wieder zu gebotener Zeit zurückfahren!

Ihre Beobachtungen zur veränderten Sprache, den Wünschen zum Abschied, ob Floskel oder nicht, finde ich sehr interessant. „Take care“ aus dem angelsächsischen Raum ... Auch ein britisches „... my dear“ mochte ich übrigens sehr, weil es den Umgang, das Miteinander erleichtert und mich auch eine mögliche Illusion von Nähe und Verbundenheit positiver stimmt, als ihre Abwesenheit.

Im Türkischen gab es immer ein „Kendine iyi bak!“, „Pass gut auf dich auf!“ mit auf den Weg. Was mir sehr gut gefiel, auch wenn es eher als Abschiedsgruß verwendet wird, wie auch unser deutsches „Wie geht es dir?“ sich, von Corona losgelöst, immer weiter zur Floskel wandelt.

Aber vielleicht geht hier meine subjektive Wahrnehmung an der Realität vollkommen vorbei, vielleicht bedeutet ein „Kendine iyi bak!“ in Istanbul die Erinnerung an die tektonischen Spannungen, an die Wahrscheinlichkeit eines Erdbebens mit verheerenden Folgen, an vergangene Erdbeben in der Nähe ...

Und die von Ihnen beschriebenen Ausdrücke kommen wirklich von Herzen.

Vom Dezember 2020

Liebe Friederike,

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Es hängt alles noch nach, und ich komme nur langsam in das neue Jahr hinein, würde lieber nichts mehr tun müssen außer Puzzlen (die neue Leidenschaft über Weihnachten „The quirky world“, 2000 Teile, dafür kein Esstisch mehr) und in den Himmel starren. So ungefähr.

Oder aber im Break-Out-Room mich herumtreiben. Der sticht mir nämlich gerade in (aus?) Ihrem Brief ins Auge (unsere blutrünstigen deutschen Redewendungen!) und es klingt so spannend. Es erinnert mich an unterirdische Labyrinthe, in denen man sich wohl begegnet. Meine Studierenden von der HAW, zwei Workshops, die ich dort gab, trafen sich auch in solchen Räumen. Gott sei Dank hatte ich technische Unterstützung und war doch sehr froh, als sie alle wohlbehalten wieder eintrudelten. Mit Texten! Es gab wohl in den Labyrinthen Schreibwerkzeug und einen Notausgang.

„Tierisch“ Ja: an den Ausdruck erinnere ich mich gut. Und noch weiter zurück: Gestern googelte ich auf Youtube „The Sweet“. Kannten Sie die eventuell noch? Ich hatte ein paar Singles von denen. In meiner Vorjugend, Nachkindheit oder wie man das nennen mag.

Gestern unterhielt ich mich mit meiner ältesten Freundin über unser erstes Konzert:  Mit 14 (!) Status Quo in der Olympiahalle. Wir trugen Männerhemden, Anzugwesten und Jeans mit Schlag. Später haben wir uns aus orangenem Plastik wilde Westen zusammengetackert.

Das war weit vor „tierisch“. Tierisch passt zu „stark“. Oder? Das war doch die Zeit?

Und mindestens genauso weit weg bzw. weit zurück Ihr Haiku zum Hautkontakt, mit dem die Berührung „früher“ zu tun hatte. Da fällt mir auf, dass Berühren ja schon immer auch unhaptisch möglich war, wir Mensch*innen also „damals“ schon weit voraus waren und beinahe pandemiesicher.

Obwohl: So wie Sie es schrieben, liest man es natürlich anders, und dass es schön war damals. Und dennoch. Stelle ich verwundert fest ... ach, was dreht man die Worte sich im Hirn herum ...

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