Betty Kolodzy, geboren 1963 in Wolfenbüttel und in München aufgewachsen. Die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin und Kommunikationswirtin lebt heute, nach Stationen in Marseille, London, Granada und Berlin, als freie Autorin in Bremen. Sie verfasst Romane und Erzählbände, erhielt mehrere Stipendien. Zuletzt erschien ihre Short Story „Denk ich an Elster“ im Hamburger Literatur Quickie Verlag. Sie lehrt Kreatives Schreiben an der Uni, in Flüchtlingswohnheimen, Schulen, Museen (u.a. Focke- & Overbeck-Museum). 2016 initiierte sie das Schreibprojekt Heimat:Sprache für Menschen mit Fluchthintergrund. Für ihren Schreibworkshop Heimat:Sprache für geflüchtete Frauen wurde sie 2019 mit dem ersten Bremer Frauenkulturförderpreis ausgezeichnet. 2020 folgte eine Einladung des Bundespräsidenten zum Neujahrsempfang im Schloss Bellevue. Infolge des Corona-Lockdowns initiierte sie den Briefaustausch „NÄHE in Zeiten von Distanz“ in Kooperation mit dem Bremer Literaturkontor.
Kollateralschädel
Seit das Corona-Wetter, BlauinBlau und Sonnensatt, verschwunden ist, seit gestern aus einer Wolke ein weißer Pudel und heute früh ein schwarzer Feuerdrache ins Firmament entsprangen, ist meine Stimmung dahin. Die Lockdown-Kollateralschäden sind immens, mindestens 30% der Bevölkerung befinden sich in Angst, der Rest in lethargischer Depression. Gestern erzählte mir ein Nachbar, der eine Mask-Time-Video-Party veranstaltet hatte, dass das Leben nicht mehr lebenswert sei.
Die Verhaltensstörungen sind nicht zu übersehen. Das immer professionellere Ausweichen hat nichts Tänzelndes mehr an sich, eher wirkt es so, als flüchte man voreinander: nur schnell nach Hause, bloß kein Kontakt, rasch hin zu Konserven, Klopapier und anderem Vorrat. Wo war bloß der Dosenöffner?
Fremde Menschen schreiben mich an. Ob ich denn wirklich beim Skifahren war. Womöglich in Ischgl. Was für ein Wort: 5 Konsonanten hintereinander!
Nein: Weder war isch ischgln, noch fahr ich Ski, auch wenn ich aus einer Stadt stamme, von deren höchster Erhebung man bei Föhn die Alpen erblickt. Wer weiß schon, dass der Olympiaberg früher Schuttberg hieß? Dass sich darunter Trümmer des Zweiten Weltkriegs befinden?
Dort ganz in der Nähe bin ich aufgewachsen. Dort lebt meine Familie, die ich eigentlich besuchen wollte. Doch dann kam Corona.
„Dann kam Corona! Schallallallallaallaa!“ Ein schmalzlockiger Sänger mit Gamsbart stolziert durch meinen Kollateralschädel, schnalzt mit Daumen und Zeigefinger im Takt. Er setzt einen Fuß auf meinem Hypothalamus ab, stützt lässig seinen Arm aufs Knie.
„Da nützt die Bahncard auch nichts mehr, was?“
Er führt etwas im Schilde, biedert sich an.
„500 Euro und ich bring dich coronafrei nach München“, raunt er mir zu. Breitet seine Arme aus, winkelt die Knie an, um sich – autsch! - von meinem Hypothalamus abzustoßen.
Reisen in Coronazeiten
Schon die zweite Nacht wandle ich durch die Gänge des Hotels. Vorbei an geschlossenen Boutiquen, in deren Schaufenstern elegante Kleidung präsentiert wird. Passend zum mondänen Stil des Hotels, einem langgezogenen Riegel mit Art-Deco-Details. Einstöckige Gebäude wie dieses findet man selten bis gar nicht in der Münchner Innenstadt. Ich wundere mich, blicke durch die Scheiben in den Saum eines Mischwaldes: vielleicht ein Park, vielleicht der Englische Garten. Dann entscheide ich mich für zwei Jackie-Kennedy-Kostüme, die ich morgen, ohne mit der Wimper zu zucken, mit meiner Kreditkarte bezahlen werde.
Ich trete hinaus ins Freie. Tauche in meinen Corona-Morgen ein. In einen weiteren Corona-Morgen. Vorgestern habe ich das zweite Zugticket in meine Heimat storniert. Seit der ersten Stornierung im März treibe ich mich mit einer erträumten Kreditkarte in einem nichtexistenten Hotel herum. Gehe im Schlaf auf Reisen. War schon in einem Amphi-Theater in Italien, dort allerdings für einen Auftritt als Opernsängerin. Vor lauter Aufregung – ich hatte nicht geprobt, auch noch nie eine Arie gesungen – habe ich meinen Koffer mit dem Bühnenkostüm zu Hause in Bremen vergessen. Beim Aufwachen fiel mir ein, dass kulturelle Veranstaltungen momentan ja gar nicht stattfinden. Dass ich noch Zeit habe fürs Proben und für ein Amphitheater-Hygienekonzept, das sich gewaschen hat.
Social Distancing
Drei Monate wie drei Wochen.
Man hatte jede Menge zu organisieren:
alles war abgesagt, ausgefallen ...
erzählst du am Telefon.
Und erfährst von Ayhams Einsamkeit
(im Home Office)
und dass er niemanden traf
aus Angst vor dem Virus.
Erfährst von seiner Familie in Syrien,
von der Inflation, dem Hunger ...
und fragst dich,
in was für einer Welt du eigentlich lebst.
Freiheit
Wie auf einem viel zu kleinen Rad
bewegst du dich ungelenk
durch die Obernstraße.
Das Bad in der Menge
erste Schritte nach dem Stillstand
der Fastisolation.
Menschenmasken
die dir entgegenschlendern
fröhlich, plaudernd.
Während du,
auf einsfünfzig fokussiert
die Melodie des Saxofonisten errätst:
You must remember this. A kiss is still a kiss ...*
*aus “Anything goes” von Cole Porter
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf?
Da hatte ich aber Schwein heute beim Einkaufen in einem Supermarkt im Steintor: Als ich meine Waren auf das Band legte, tauchte er hinter mir auf: der Mann ohne Maske. Dreist hielt er nur Vorcorona-Abstand und reagierte auf meine irritierten Blicke mit noch breiterer Brust.
„Sie haben Ihre Maske vergessen“, sagte ich freundlich, meine Waren auf das Band legend, zwei Schritte nach links.
„Das ist ja interessant, dass Sie mich darauf hinweisen.“ Sein spöttischer Unterton, sein belustigter Blick, während mein Einkauf Richtung Kasse rollte.
Der Verkäufer scannte die Artikel, tat ansonsten, als bekäme er nichts mit.
„Ich finde das ein bisschen gruselig und dachte, Sie hätten Ihre Maske vergessen“, wiederholte ich immer noch freundlich.
„Ich habe meine Maske nicht vergessen“, sagte der Unmaskierte arrogant.
Ich bezahlte, das Schweigen hinter der Kasse blieb. Wahrscheinlich aus Angst, in eine unübersichtliche Situation zu geraten. Was ich verstehen kann.
Nach dem Bezahlen wollte ich meinen Einkaufswagen weiterschieben, da versperrte mir ein alkoholisierter Mann ohne Mund-Nasenschutz den Durchgang, er war auf dem Weg, seinen Bierflaschenpfand einzulösen.
„Sie haben Ihre Maske vergessen.“ Ich wieder.
Der Alkohol-Ausdünstende rollt seinen Schal über den Mund und will mir einen von wegen „Das ist sowieso so eine Sache mit den Masken“ erzählen … Ich bitte ihn um Abstand. Ich verstehe schon seit einiger Zeit nicht, warum ich hier eigentlich die Einzige bin, die findet, dass etwas nicht stimmt.
Nächstes Mal mache ich den Frau-ohne-Maske-Test und gehe in den Laden. Mal gucken, was dann passiert.
Prekär ist peinlich
Einkaufen ist das neue Reisen. Als Bremer-Innenstadt-Fan treibe ich mich oft in einem Discounter am Ende der Langenstraße herum. Einem Gespräch zweier Wassermelonen entnehme ich, dass sich die Theorie des Schuppentiers längst überholt habe. Marderhunde seien die neueste Gefahrenquelle. Muss ein Marderhund täglich zwei Mal Gassi geh’n, Frau Klöckner? Erst Fledermäuse, dann Schuppentiere, die ganze Tierwelt gerät in Verruf, ärgere ich mich, meinen Einkaufswagen Richtung Kühlregal bugsierend.
Die „russische Woche“ (Fernreise!) bietet russischen Kefir, hergestellt in Deutschland, aber superlecker, wie ich aus Erfahrung weiß. Im Slalom um einen Masken- und einige Wagenverweigerer geht es weiter zu Käse und Nudeln. Seit Corona packe ich die Wagen voller als sonst, seltener einkaufen ist meine Devise zur Minimierung des Ansteckungsrisikos. Denn für Freischaffende bedeutet Krank-Sein schlicht und ergreifend: Kein Geld! Leider schaltet mein Fahrradkorb bei solchen Überlegungen meist auf stur, Empathie ist nicht sein Ding. So auch diesmal, als ich mit zwei Büdeln und einigen losen Produkten unter der Armbeuge bei 33 Grad an den Fahrradbügeln zwischen Weser Kurier und Parkhaus stehe: Der Korb stellt sich quer, verweigert partout die (Nahrungs-)Aufnahme. Als ich ihm die beiden Kefirs von der Seite unterjubeln will, stößt er sie empört von sich - zwei atemberaubende Salti später klatschen sie auf das Trottoir und starren sauer zu den Gästen des Cafés gegenüber.
Mein Fahrrad wackelt bedrohlich hin und her. Eine Passantin bietet an, es zu halten, während ich ins Pressehaus laufe, um einen Wischmopp zu holen. Dort versorgt mich eine freundliche Mitarbeiterin mit Papierhandtüchern und einer Tüte für die Kefirbehälter. [1] Ein letzter Rest wird bestimmt bleiben, fürchte ich. „Kein Problem“, erwidert die Frau lächelnd. Sie sei so dankbar. Normalerweise fahren die Leute einfach weiter, wenn so etwas passiert. „Und hier können Sie sich wieder fein machen!“ Sie zeigt mir den Weg zu den Waschräumen, wo mich der Duft bunter Frühlingsblumen empfängt, ich meine Arme im klaren Wasser eines Gebirgsbachs erfrischen kann.
Gemütlich radle ich zurück. Das Leben ist schön, die Menschen nett - als plötzlich ein gewaltiger Platzregen vom Himmel herniederpladdert! Unter die Markise eines Cafés an der Balgebrückstraße rette ich mich und meinen Einkauf, während Katzen und Marderhunde in mannshohen Pfützen rangeln. Wir werden alle über uns hinauswachsen. Nur mein Moroschenoje wird schmelzen ... Dafür ist der Platz vor dem Pressehaus nun wieder tipptopp.