Florian Reinartz, geboren 1980 am Niederrhein, schreibt seit seinem zwölften Lebensjahr Gedichte und Kurzgeschichten. 2010 promovierte er in Germanistik an der Universität zu Köln. Seine wissenschaftliche Arbeit für die Günter Grass Stiftung Bremen führte ihn im selben Jahr in die Hansestadt. Seine Gedichte und Kurzgeschichten sowie Zeichnungen und Fotos veröffentlicht Florian seit 2013 in seinem Blog Freigeist. Er ist freiberuflich als Meditations- und Yoga-Lehrer sowie persönlicher Coach tätig. Er hat eine Katze und hört gerne Death Metal.
Er sitzt im InterCity zwischen Münster und Dortmund. Normalerweise versucht er, ausschließlich Regionalzüge zu nutzen. Der Umstieg wurde nötig aufgrund eines Zugausfalls. Ein Zeichen von Normalität.
Der Sitzplatz neben ihm ist natürlich frei. Und wird frei bleiben. Zeichen einer neuen Normalität. Im Waggon ist es still, der Zug gleitet dahin, die Menschen, die man sieht, atmen brav hinter ihren Masken.
Auch er atmet brav hinter einer Maske. Zumindest dem Anschein nach. Zumindest beim Einatmen. Er hört seinem Ausatmen zu und das sanfte, regelmäßige Rauschen beruhigt ihn.
Der Verkehr hat nie geruht und wird nie ruhen, trotz Stillstand und leerem Himmel rollten Züge, fuhren Busse, Autos und Fahrräder. Unvermeidbare Bewegungen wie die Versorgung im Supermarkt. Doch so langsam kommt auch alles andere wieder in Gang. Darum ist er unterwegs.
Die Stille beginnt rissig zu werden. Im Waggon fängt ein Kind an zu schreien. Die Bahnhöfe sind brüllend laut. Auf den Straßen wird gegrölt.
Er setzt sich Kopfhörer ein, die Musik überdeckt das schreiende Kind, aber auch das Rauschen seines Ausatmens. Er schließt die Augen und geht seinen Reiseplan durch.
Dortmund, Essen, Duisburg. Waggonwechsel über das Gleis, in den selben Zug wieder einsteigen. Aufenthalt in Duisburg nutzen für die Geschäfte im Bahnhof. Bäckereien, Imbisse, Mini-Supermärkte und Zeitschriftenläden. Regionalzüge über Düsseldorf nach Köln. Wie gern wäre er auch über die Kö gegangen, aber das lässt der Zeitplan nicht zu. Dann Köln, Domplatte, Dom. 6 Millionen Besucher jährlich (präcorona). Vielleicht halten sich im kühlen Dom die Aerosole länger? Dann vom Heumarkt zum Neumarkt. Zu Fuß zurück durch die Schildergasse. Eine Rheinschifffahrt, bevor es ins Hotel geht.
‚Und dann lasst uns feiern‘, denkt er.
Drei Tage vor dem Lockdown – oder Quietdown, wie er ihn lieber nennt – war er von einem Schweigeretreat im Kloster zurückgekehrt. Mit einem ruhigen Geist, einem wohlwollenden Blick für seine Mitmenschen – und mit einem angefangenen Manuskript, das im Lärm seines wieder laut werdenden Alltags in der Versenkung verschwinden würde. Wie so vieles, das er angefangen und nie vollendet hatte.
Auf der Rückfahrt vom Kloster begegnete ihm an einer Autobahn-Raststätte eine ältere Frau mit Atemmaske. Ein befremdlicher Anblick. Da er sein Smartphone während des Retreats nicht benutzt hatte, hatte er nicht mal die leiseste Ahnung, dass sich dies bald ändern sollte.
An der gleichen Raststätte bekam er eine Whatsapp von Jospehine. „Das wird noch hässlich werden“, schrieb sie. Er kommentierte das mit lachenden Emojis. Jospehine, seine Daueraffäre, war eine Prepperin, sie hatte ungefähr 20 Kilo Nudeln, 10 Kilo Reis und so weiter eingelagert.
In weniger als drei Stunden erdrückte ihn der Lärm der Außenwelt. Das Manuskript landete am selben Tag buchstäblich in der Schublade, während er sich das Geschrei der Nachbarn, ihre Fernseher und Videospiele, ihre Fußballjubel und Schlagermusik anhören musste. Bis er seine Kopfhörer einsetze und in Musik flüchtete.
Unglücklicherweise kann er bei Musik ebensowenig schreiben wie bei jedem anderen Geräusch.
Glücklicherweise wurde es wenig später so still, dass er sein Manuskript aus der Schublade nahm und den Stift wieder über das Papier gleiten ließ.
Die freigegebene Hälfte des Bordbistros ist halb gefüllt. Drei Männer in karierten Hemden sitzen beim Bier, aus einem ihrer Smartphones dröhnt ein Schlager: „Wiiir machen mit bei der Rettung der Eeerde!“
Er bestellt sich auch ein Bier und setzt sich an einen freien Tisch.
In einem Aufsatz eines Wirtschafshistorikers hat er einmal gelesen, dass man sich intelligent verhalte, wenn man sowohl sich selber als auch der Allgemeinheit Gutes tue. Wer sich selbst schade und gleichzeitig auch der Allgemeinheit schade, der sei dumm zu nennen.
Er sieht sich im Bordbistro um und schnappt Satzfetzen auf.
„Die da oben.“
„Völliger Unsinn.“
„Freiheit.“
„Die nehmen uns.“
„Ich bin doch gesund.“
„Die Pharmaindustrie.“
In dem Aufsatz des Wirtschaftshistorikers waren noch zwei weitere Menschentypen genannt: Die Unbedarften, die der Allgemeinheit etwas Gutes täten, sich selbst dabei aber schadeten. Und die Banditen, die sich auf Kosten der Allgemeinheit einen Vorteil verschafften.
Ein weiterer Schlager dröhnt aus dem Smartphone: „Wiiir saufen – bis zum Endeee!“ Die Männer in karierten Hemden stimmen ein.
Sein Bier wird serviert. Auch er zieht seine Maske herunter und singt lachend mit. Lieber ein Bandit als dumm zu sein, denkt er.
Es wurde so still, wie er es noch nie erlebt hatte. Nicht in dieser Stadt zumindest. Nicht in diesem alltäglichen Leben.
Er trat morgens auf den Balkon und atmete die Stille ein. Er wandelte Stille in Fülle und ließ sie auf das Papier fließen.
Eines Morgens rief plötzlich ein Nachbar herüber: „Na, Herr K., auch Homeoffice?“,
„Jaha“, antwortete er ihm stumpf. Und dann: „Nee nee!“
„Ich bin Künstler“, dachte er. „Und jetzt halt Deine Fresse, Du Affe, ich will die Stille genießen.“
Trotz solcher Zwischenfälle blieb sie, die Stille. Wenn er wieder einmal etwas von den Nachbarn hörte, begab er sich auf Spaziergänge in den menschenleeren Parks und Wäldern.
Er beschrieb Seite um Seite. Schließlich hatte er was zu erzählen.
Nebenbei traf er sich abwechselnd mit Mareike und Josephine, die bei den Kontaktbeschränkungen eine Ausnahme machten, wenn es nur um Sex ging. Da sie – beide Mütter – zudem sehr fürsorgliche Frauen waren, brachten sie jedes Mal etwas zu essen und zu trinken mit.
Zusammen mit amazon und dem Getränkelieferanten ersparten sie ihm, die Wohnung überhaupt noch zu Versorgungszwecken verlassen zu müssen. Er machte sich mit dem Darknet vertraut und bekam weitere erdenkliche Konsumgüter direkt nach Hause geliefert.
Über das Darknet kam er auch auf die Idee, wie dieser schier paradiesische Zustand erhalten oder zumindest verlängert werden könnte.
Der Kölner Hauptbahnhof. Ausgangspunkt vieler Geschichten seiner Vergangenheit. Wie es hier wohl ausgesehen hat im Quiet Down? Jetzt ist es laut wie immer, voll wie immer. Und so, wie er es sich vorgestellt hat. Er zieht ein paar gemächliche Runden durch die beiden Haupthallen, die Verbindungshallen, die Fressmeile.
Lass es still werden, denkt er sich. Und atmet durch den unsichtbaren Schlauch aus.
Die zweite Welle ist in Sicht. Noch ist der zweite Lockdown nur eine Angst. Aber die Virologen habe haben ihn und seinesgleichen nicht einberechnet in ihre schlauen Virologen-Berechnungen.
Er verlässt den Bahnhof und blickt auf zum Dom. Auf der Domplatte tanzen ausgelassen Jugendliche in den letzten Stunden einer letzten Sommerhitze. Er tanzt kurz mit.
Die Hitze hält sich bis tief in die Nacht. Er steht vor einer schweren Eisentür, einem Hintereingang des Wal-Hell-A, aus dem normalerweise düstere Metalmusik dröhnt, und wartet auf Jospehine.
Ein Event wie dieses fühlt sich in diesen Zeiten noch mehr wie ein Geheimtreffen an. Und auch wenn nicht mehr als zehn Paare daran teilnehmen dürfen, eignet es sich bestens für das, was man Superspreading Event nennt. Von hier wird jeder einzelne eine ekstatische Erfahrung mitnehmen. Und garantiert einen Virus.
Er hört Absätze auf dem Straßenpflaster, Jospehine erscheint ganz in Schwarz. Sie küssen sich kühl, lächeln sich an und dann öffnen sie die schwere Eisentür.
Er lässt den Whisky seine entzündete Kehle herunterrinnen. Medizin, sie brennt etwas. Er hofft, dass sie nicht zu viel desinfiziert.
Zufrieden blickt er in die Runde: exklusive Damen und Herren, ekstatische Bewegungen, Blicke, Berührungen. Josephine neben ihm im Liebesspiel mit einer Blondine, die sich Sissi nennt. Für die Lust hat Josephine schon immer jede Vorsicht fahren lassen.
Ob unter diesen exklusiven Menschen wohl noch ein aktiver Spreader ist, fragt er sich.
Er beginnt eine Melodie vor sich her zu summen: „Wiiir machen mit bei der Rettung der Eeerde!“
Er hätte sich mit anderen koordinieren können. Im Darknet werden nicht nur Baupläne für Aerosol-verbreitende Masken ausgetauscht und Hacks zur missbräuchlichen Verwendung der Corona-App, sondern auch Absprachen zur planmäßigen Infizierung bestimmter Regionen getroffen. Aber er will lieber Einzelkämpfer bleiben, ohne andere Spreader und erst recht ohne Verschwörer und Querdenker. Die Sache für sich durchziehen, für die Lust und vor allem für die Kunst. Bald wird er sein Manuskript fortsetzen.
Und darauf hat die Welt schließlich gewartet. Wirklich: er wird die Welt retten.
Der Morgen ist lautlos. Durch leere Straßen laufen sie zum Hotel.
„Was schaust Du denn ständig auf dein Handy?“, fragt Josephine neben ihm.
Die manipulierte App zeigt an: 667 potenzielle Ansteckungen in den letzten 24 Stunden. Ein bisschen über sein Tagesziel hinausgeschossen. Ein bisschen mehr Bandit, als er es sich vorgenommen hat. Doch er ist stolz, er lächelt und zischt Josephine zu: „Psssst!“
Niemand weiß, wie es ausgeht. Neben den unzähligen Möglichkeiten ist auch der Zeitpunkt kaum zu bestimmen, wann es vorbei ist. Wir können nur spekulieren.
Eine Möglichkeit:
Am 2. November 2020 wird der erfolglose Schriftsteller Franz K. leblos in seiner Wohnung aufgefunden, nachdem ihn seine intime Bekannte Josephine F. einige Tage zuvor als vermisst gemeldet hat. Die Verwesung hat bereits eingesetzt, die Haut von Franz K. ist käferartig verfärbt und verhärtet.
Auf seinem Schreibtisch findet sich ein 78-seitiges Manuskript mit vielen handschriftlichen Anmerkungen, das auf der letzten Seite abrupt abbricht mit den Worten „Rettung der Erde“.
Die Obduktion ergibt, dass Franz K. an der Influenza erkrankt und gestorben ist. Eine Infektion mit SARS-CoV-2 kann bei Franz K. nicht nachgewiesen werden.
Ausflug ins Gebirge
(frei nach Franz Kafka und Sebastian Kurz)
„Ich weiß nicht“, rief ich ohne Klang, „ich weiß ja nicht. Wenn ich niemanden treffe, dann treffe ich eben niemand. Dann habe ich niemanden infiziert, niemand hat mich infiziert, niemand aber wird mir helfen. Und niemandem werde ich helfen.
Ich könnte – warum denn nicht – mit niemand einen Ausflug ins Gebirge machen. In weitem Abstand würden wir wandern, feierlich, mit ausufernden Bewegungen. Lauthals würden wir in die Täler rufen, vielleicht würden wir singen und es geschähen Wunder.
Oder hast du jemals niemand singen gehört?“