Literarischer Kulturaustausch 2022 – mit Angelika Sinn
Texte zu den aktuellen Geschehnissen im Iran
Im Hinblick auf die Proteste und die Bewegung im Iran, ausgelöst durch den gewaltsamen Tod von Mahsa Amini, haben wir im Literarischen Kulturaustausch zu den Themen Freiheit und Trost geschrieben. Mit ihren so entstandenen Texten waren drei der Teilnehmer*innen an der Solidaritätsveranstaltung „Frau – Leben – Freiheit – Schreiben“ beteiligt, die am 19. Dezember 2022 in der Villa Ichon stattfand.
Infos zur aktuellen Schreibwerkstatt und Anmeldung hier
Mehr Texte aus dem ›Literarischen Kulturaustausch 2022‹ gibt es HIER
Das Tuch verrutscht
Sie lernt Deutsch
hier, neben mir.
Lange Haare
große Augen
glänzende Zähne.
Ich frage sie
wie das ist
in Iran
eine Frau zu sein.
Sie lacht.
Ich bin von Geburt an frei
- erkläre ich
obwohl ich katholisch getauft wurde
Sie sucht Fotos auf ihrem Handy
zeigt sie mir.
Ich frage sie
wie das ist
mit vollständig bedecktem Körper
die Sonnenstrahlen am Strand zu spüren.
Sie hört auf zu lachen
sagt: Aber an privaten Stränden
ist der Bikini erlaubt!
Eine Kollegin aus meiner Firma
– erzählt sie dann
war auf der Straße.
Sie litt an Krebs.
Ihr Kopf ohne Haare
ihr Gesicht ohne Augenbrauen.
Der Stoff eines Kopftuches ist sehr fein!
Das Tuch verrutscht leicht!
Die Moralpolizei hat sie verhaftet.
Ich leide an Krebs
– entschuldigte sie sich.
Sie möchten nur einen Trend setzen!
– beschuldigte sie der Polizist.
Magische Dinge, die mich trösten
Das erste Wort,
das ich zu meiner Mama sagte.
Ihre kolumbianische Gemüsesuppe.
Die Kindheitsgeschichten meiner Oma
über die Hexen
und die geflochtenen Mähnen der Pferde.
Partys ohne Stereoanlage
aber mit Streichmusikern und Sonntagsschuhen.
Der Humor meiner Schwester
und die Erinnerung an ihren Kopf,
der sich wie ein Vogel im Bauch meiner Mutter bewegte.
Neben einem alten Baum zu atmen.
Im Körper eines Wasserfalls unterzutauchen.
Die Musik der singenden Stimmen:
meine eigene im Chor und die des Windes.
Die Geräusche unter Wasser
von bewegten Steinen im Fluss.
Etwas zu schmecken.
Die schmelzende Macadamia-Eiscreme.
Die selbstgemachte Pizza, die Er zubereitet.
Die Spekulatius-Stunde mit Milchtee.
Der Dampf heißer Schokolade.
Unnötige Dinge zu tun:
wie zwei Stunden und drei Minuten
aus dem Fenster in den Himmel schauen.
Der Geruch eines Lagerfeuers.
An die Schlangen zu denken,
wie sie schwimmen, wenn der Fluss ansteigt.
Die Reise der Ameisen zu beobachten.
Die Gedächtniskunst
aber gleichzeitig die Fähigkeit, zu vergessen.
Mit der Hoffnung auf Willensfreiheit ins Bett zu gehen,
die Kerze des Lebens in der Brust anzuzünden
und von den magischen Dingen zu träumen,
die mich trösten.
An die vier Winde
wenn meine Vergangenheit mich fragt, wie ich mich fühle
sage ich ihr, dass die Gegenwart es mir verbietet, in die Zukunft zu sehen
denn die Zukunft legt mir Ketten an, Fesseln, baut Steinmauern um mich herum
erfüllt mich mit Verzweiflung, Angst, Qual
mit einem Mund voller Schweigen
trotz meiner Ängste mache ich Schritte nach vorne
mit Schmerzen in den Füßen, in den Beinen und in den Gedanken
auf der Suche nach einem greifbaren Horizont
der nicht nur während der Sonnenuntergänge schön ist
es war nicht die böse Hexe des Westens, die in meinen Träumen erschien
die Realität wurde mit Kugeln versehen, in Eisen und Ruinen gekleidet
meine Worte entfliehen in salziges Wasser, zwischen Algen und Korallen
es wäre so einfach, sich das Blau des Meeres am Himmel vorzustellen
ein Lied der Verzweiflung zu singen
die Spur des Feuers in Pfaden des Vergessens zu hinterlassen
es wäre so einfach, sich das Blau am Himmel vorzustellen
im Rhythmus eines ruhigen Herzschlags zu fliegen
ein sauberes Weizengedicht zu rezitieren
die Hände zu heben in die Luft, ohne Staub und Asche
ein Barfuß-Gedicht zu rezitieren
vom Aufeinandertreffen von Meeresschaum und Sand
vom kräftigen Körper, von ehrlicher Seele
es wäre Zeit
zu Fuß zur wiedererlangten Gesundheit
auf der Seite des Risikos zu gehen
in der Hoffnung, ohne Erinnerung zu baden
in der Ferne diesem meinem zerbrechlichen Körper
nackt vor Angst zu begegnen
das ist mein Schrei an die vier Winde
Freiheit ist das Gegenteil von Gefangenschaft…
… die alle Menschen in unterschiedlicher Form erfahren.
Freiheit ist wie ein Vogelflug, denn ein Vogel fliegt, wohin er will. Zweifellos kann die Freiheit für diesen Vogel gefährlich werden, wenn er sich von seinem zu Hause entfernt und wenn Raubvögel ihn am weiten Himmel entdecken.
Ich kenne einen Wald, in dem Vögel ständig von Raubvögeln mit dem Tod bedroht werden. Vor einiger Zeit hat eine Gruppe dieser Raubvögel, die sich selbst Moralpolizei nennt und behauptet, sie bekäme ihre Befehle von Gott, einen der Vögel in diesem Wald getötet. Weil er ohne Rücksicht auf die Gesetze des Dschungels geflogen war. Die Eltern dieses Vogels erzählten anderen Vögeln die Geschichte, wie ihr Kind getötet wurde.
Nun rebellieren alle Vögel gegen den König des Dschungels und wollen die Regeln ändern. In der Hoffnung, dass die Vögel bald unbeschwert am Himmel fliegen können. Leider wissen sie nicht, dass die Freiheit in allen Wäldern der Welt begrenzt ist. Ich hoffe aber, dass die Generation der Raubvögel in Zukunft aussterben wird!
Hoffnung
Es gibt viele Dinge, die mich trösten.
Den Sonnenaufgang sehen!
Die Natur erfahren, ihr zuhören!
Die Landschaft von einem Berg aus betrachten!
Meine Mutter lachen sehen!
Meinen Nachbarn helfen!
Denen Trost spenden, die Trost brauchen!
Eine sichere Umgebung schaffen!
In einer Gruppe von Gleichgesinnten sein!
Empathie und Solidarität erleben!
Die Hoffnung auf den Sturz des Diktators!
Die Hoffnung auf das Ende des Leids und
die Freude der Menschen darüber!
Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft!