
Ein Nachruf auf die Schauspielerin und Lyrikerin
Brigitte Röttgers (2. Februar 1943 — 26. August 2014)
Von Johann-Günther König
Unsere Kollegin, die Schauspielerin und Lyrikerin Brigitte Röttgers, war eine ungewöhnliche Frau – eine empfindsam kritische, hellwache Zeitgenossin. Eigenwillig, klar, solidarisch, durchdacht setzte sie mit ihrer unverwechselbar eindringlichen und melodiösen Stimme gleichsam Wegweiser in Satzform – in gelöster Stimmung gerne in ihrem köllschen Heimatdialekt. Die seit 2010 zunehmend zerbrechlicher wirkende Künstlerin erlag in Berlin einer heimtückischen Krankheit; sie zerbrach im August ›lautlos‹ wie die Scherben in ihrem Gedicht ›Um eine Illusion ärmer‹.
Wir noch Lebenden sind nun ärmer um die Illusion, Brigitte Röttgers könne wieder auf die Beine und die Bühnen der Welt und des literarischen Lebens kommen. Im Spätsommer 2012, bei den Niedersächsischen Literaturtagen in Georgsmarienhütte, wollte sie mit der Kollegin und Lyrikern Inge Buck in der Lutherkirche eigene Gedichte vortragen: ›Innehalten. Worte der Stille‹. Sie konnte die Lesung nicht mehr durchführen, musste sich durch ihren Lebenspartner, den Autor Detlef Michelers, vertreten lassen.
Unsere 1943 geborene Kollegin studierte nach dem Abitur in ihrer Geburtsstadt Köln Theaterwissenschaften und Pädagogik, spielte in der Studentenbühne u.a. mit dem heutigen Intendanten der Deutschen Oper, Berlin, Jürgen Flimm. Nach dem ersten Lehrerexamen ging sie 1966 an die Schauspielschule nach Berlin. 1968 kehrte sie nach Köln in den Schuldienst zurück, arbeitete mit lernbehinderten Kindern und bestand 1970 ihr zweites Staatsexamen. Kurz darauf erhielt sie ihr erstes Engagement am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel. 1973 wechselte sie ans Schiller-Theater in Berlin unter Dieter Dorn. Anfang 1976 holte sie der bedeutende ungarische Schriftsteller und Theatermacher George Tabori (1914–2007) in das Ensemble des Bremer Theaterlabors unter dem Intendanten Peter Stolzenberg.
Für Brigitte Röttgers und die anderen Mitglieder des zehnköpfigen Tabori-Ensembles wurde das Theaterlabor im Concordia an der Schwachhauser Heerstraße zu einem Raum ungemein intensiver Erfahrungen, zumal dem Theatermacher die Proben wichtiger als die Premieren waren und jede Premiere nur eine weitere Probe. Tabori war ein unverschämt geduldiger Beobachter seiner Schauspieler, ließ sie ihren Weg, ihren Ausdruck suchen und nicht selten kam er morgens mit der Ansage in die Probe: ›Kleine Änderung.‹ Die sich häufig monatelang hinziehenden Proben basierten auf Gruppenarbeit, beinhalteten gezieltes Körpertraining und Meditationsübungen und brachten dem Regisseur den Ruf eines Gurus ein. Taboris intensive Arbeitsweise und das Miteinander des kleinen Ensembles prägten Brigitte Röttgers nachhaltig – doch sie verstand es, dabei ihre Individualität zu wahren. Sie stand auf der Bühne, als im April 1976 die Tragödie ›Die Troerinnen von Euripides‹ bei der Bremer Premiere auf laute Proteste stieß und rund 200 Zuschauer Türen schlagend das Theater verließen. Sie stand auf der Bühne, als die Stücke ›Sigmunds Freude‹, ›Talk Show‹, ›Verwandlungen‹ und ›Die Hungerkünstler‹ viel Aufsehen erregten – und das nicht nur in der Wesermetropole. Das letztere, frei nach Kafkas Erzählung ›Ein Hungerkünstler‹ vom Theaterlabor erarbeitete Stück, entzündete bereits vor der Uraufführung am 10. Juni 1977 kontroverse Diskussionen in der Öffentlichkeit, ließ Tabori das Ensemble doch zuvor 40 Tage unter ärztlicher Aufsicht fasten, um die Schwäche von Hungernden auf der Bühne wirksam werden zu lassen. Nur Brigitte Röttgers lehnte damals das Fasten ab, und George Tabori reagierte wie immer lakonisch und der künstlerischen Arbeit dienlich: ›Dann spielst du die Krankenschwester, die die Hungernden pflegt.‹ Die Tage des Theaterlabors endeten im Sommer 1978, als Peter Stoltzenberg aus dem Amt schied und auch George Tabori die Hansestadt verließ.
Unsere von 1976 bis 2012 überwiegend in Bremen lebende Kollegin Brigitte Röttgers hatte viele Auftritte als Schauspielerin – u.a. auch an den Bühnen in Frankfurt a. M. und Düsseldorf, gastierte in der Sowjetunion, Polen und Westeuropa. Darüber hinaus war sie Lehrbeauftragte an mehreren Hochschulen – nicht zuletzt für belletristisches Schreiben an der Bremer Uni. Neben der Theaterarbeit veröffentlichte sie ihre eigenwillig bildreichen Gedichte in vielen Anthologien und Zeitschriften wie ›Akzente‹ und ›Merkur‹. Sie wurden teils auch ins Englische und Polnische übertragen. 2006 publizierte der Bremer Sujet-Verlag ihren bestechenden Gedichtband ›Drachentage‹.
Brigitte Röttgers lieh ihre Stimme Dutzenden von Hörspielen und Features, von denen ab der Jahrtausendwende viele als Hörbücher erschienen. Das mitverfasste Hörbuch ›In Freiheit leben. Jean-Paul Sartre und seine Zeit‹ z. B. wurde 2006 für den Deutschen Hörbuchpreis (Beste Information) nominiert. Für die Interessen der bremischen und niedersächsischen Autorinnen und Autoren engagierte sich Brigitte Röttgers seit Beginn der 1980er Jahre nachhaltig. Sie nahm maßgeblich an der Planung und Gründung des Bremer Literaturkontor e.V. teil und war von 1993 bis 2006 Mitglied des Vorstands. Von 2006 bis 2010 wirkte sie in unserem VS-Landesverbandsvorstand Niedersachen-Bremen mit, betreute die neuen Mitglieder, prüfte die Kassen und hatte immer einen hilfreichen Rat parat. Für den VS und den Fördererkreis übernahm sie zudem mehrmals die künstlerische Leitung von Schriftstellertreffen und – zusammen mit Detlef Michelers – der Niedersächsischen Literaturtage in Stade (2005) und Dangast (2009). In bester Erinnerung bleiben ihre bei einigen unserer Treffen durchgeführten Workshops für Autor/innen: ›Ich, mein Text, meine Lesung – wie präsentiere ich meine Texte‹.
Brigitte Röttgers bereicherte jahrzehntelang das (nord-)deutsche Kulturleben – auf der Bühne und im Rahmen literarischer Veranstaltungen, im VS, Fördererkreis, Bremer Literaturkontor und im engeren und weiteren Kolleginnen- und Kollegenkreis. Ihr Tod reißt eine Lücke. Wie heißt es in den ersten Zeilen ihres Gedichts ›Nachmittag‹: ›Himmelwärts stürmen / Mit wehendem Haar / Mit weinendem Herzen / Mit gebrochenen Beinen / Mit glühender Haut / Der Neugierde nach / Bis in die Milchstraße…‹